Pakistans Balljungen

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SCHALKE UNSER 8

(mac) „Der Ball muß kugelförmig sein… Der Umfang des Balles darf nicht mehr als 71 cm und nicht weniger als 68 cm betragen. Das Gewicht des Balles bei Spielbeginn darf nicht mehr als 453 g und nicht weniger als 396 g betragen. Der Druck soll 0,6 bis 1,1 Atmosphären betragen, was 600 – 1 100 g/qcm auf Meereshöhe entspricht.“ Und, und, und. Jedes noch so kleine Detail schreibt das DFB-Regelwerk vor: Größe, Luftdruck, Rücksprunghöhe. Nur eines ist ziemlich egal – unter welchen Umständen der Ball hergestellt wird. Die Umstände sind skandalös. SCHALKE UNSER berichtet über Kindersklaven, die unser liebstes Spielzeug unter unwürdigen Bedingungen zusammennähen.

David ist zwölf und spielt für sein Leben gerne Fußball. Normal. David spielt beim VfL Sürth in der Nähe von Köln. Er spielt mit einem Ball, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einem anderen Zwölfjährigen am anderen Ende der Welt hergestellt wurde – in Pakistan. Nennen wir den Jungen, der Davids Spaß erst ermöglicht, Mohammed. Das ist durchaus authentisch und paßt außerdem gut zu unserem Vereinslied.

Mohammed also ist kein Prophet, Mohammed ist Kinderarbeiter, ist ein moderner Sklave. Mohammed ist zwölf, wie gesagt, und die Schule hat er nie besucht. Er versteht eine Menge vom Fußball. Zwar hat er zum Spielen keine Zeit, aber das Spielgerät, das kennt er bestens. Drei Bälle schafft er höchstens am Tag, denn der Fußball, der ist ein hochwertiges, ein aufwendiges Produkt.

Neun Stunden am Tag näht er die Kunstleder-Elemente zusammen, neun mal dreißig Pfennig bekommt er dafür. Macht zusammen also 2,70 Mark Tagesverdienst oder neunzig Pfennig pro Ball, der bei uns zwischen 40 und 170 Mark kostet. Mohammed ist stolz, weil er sich von unterklassigen Bällen hochgearbeitet hat zu denen, die ein Matthäus oder Maradona in wichtigen Netzen versenkt. Vier Jahre hat er für diesen Karrieresprung gebraucht.

Tanz um den goldenen Ball: Hier geht es um Millionen, in Pakistan um Pfennige…

Vielleicht hat einer seiner Bälle mal ein WM-Spiel entschieden oder das DFB-Pokal-Finale, vielleicht hat einer seiner Bälle Millionen bedeutet. United colors of Fußball.

Blau und weiß – vielleicht hat Mohammed sich tatsächlich diese Farben ausgesucht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls hat er sich sein Leben nicht ausgesucht, nicht aussuchen können. Kinderarbeit. Man hat schon mal davon gehört, meistens im Zusammenhang mit Teppichen. Sind so kleine Hände, die sie knüpfen und sind so kleine Hände, die unseren heißgeliebten Fußball zusammennähen. Handarbeit. Wertarbeit.

Für bis zu 1,50 Schweizer Franken sogar FIFA-geprüft. 200 Millionen Kinderarbeiter soll es weltweit geben, 200 Millionen Mohammeds gewissermaßen, die in Steinbrüchen, Streichholzfabriken, Gerbereien oder Orangenplantagen arbeiten. Oder in Sialkot, Pakistan.

Sialkot. Welthauptstadt des Fußballs. Sialkot hat keinen S04, hat keinen Verein, der es mal zu sportlichem Ruhm hätte bringen können. Wie auch? Die Kinder, die Jugendlichen arbeiten, statt zu trainieren. In Sialkot, im Osten Pakistans an der Grenze zu Indien gelegen, werden mehr Bälle hergestellt als an jedem anderen Ort der Welt. Ganze Dörfer rund um die 300 000-Einwohner-Stadt leben vom Geschäft mit dem Ball. In manchen arbeiten zwei Drittel aller Kinder an diesem so unscheinbaren Produkt. Auch Mohammed. Ohne seinen kargen Lohn könnte die Familie nicht überleben in der Weltwirtschaftsliga, in der sie ohnehin auf dem Abstiegsplatz steht.

So weit, so schlecht. Unser verwöhnter Westblick aber, sozusagen von der Champions League des Wohlstands auf die unterste Kreisklasse, ist nicht statthaft. Kinderarbeit einfach abschaffen zu wollen, ist absurd, ist illusorisch.

Kinderarbeit ist bittere Realität, nimmt weltweit mehr und mehr zu. Vielleicht könnten wir besser mit ihr leben, wenn wir nicht die deprimierenden Hintergründe kennen würden – vor allem: „bondage labour“, die Schuldknechtschaft.

Schuldknechtschaft ist, wenn ein Menschenhändler ins Dorf kommt, die Eltern, die weder rechnen noch lesen noch schreiben können, überrumpelt. Er verspricht ihnen gewöhnlich einen – für pakistanische Verhältnisse – hohen Kredit von 30 Mark. Dafür, so die scheinbare Wohltat, nimmt er sogar ein Kind der Eltern mit, verspricht ihm gute Ausbildung sowie guten Lohn und den Eltern, daß das Kind regelmäßig ein Teil des Gehalts überweist. Und schon ist das Kind weg. Dritte-Welt-Transfer: Das Kind, Mohammed, wird verkauft. Schuldknechtschaft, geächtet von den Vereinten Nationen, ist, wenn Kinder für die Schulden der Eltern bezahlen müssen, bezahlen müssen mit kaputter Gesundheit, Analphabetismus und verpaßter Kindheit. Kinderarbeit ist, wenn Kinder nicht im Hinterhof kicken, sondern sich dort krank schuften.

Vielleicht könnten wir hier im Westen auch besser mit der Kinderarbeit leben, wenn sie nicht mehr wäre als „Kinder verdienen etwas dazu“. Weit gefehlt.

Kinderarbeit ist nicht nur Folge von Armut, sie ruft auch neue Armut hervor. Weil Kinder arbeiten, billiger arbeiten, da sie sich nicht wehren können, werden ihre Eltern arbeitslos. Ein Kreislauf.

Und: Wer als Kind arbeitet statt zur Schule gehen zu können, wird auch als Erwachsener nie einen qualifizierten Job bekommen. Kinderarbeit fördert so neue Kinderarbeit.

40 Millionen Bälle werden pro Jahr auf der Welt hergestellt, mindestens 30 Millionen davon rund um Sialkot. Ein Zehntel der Weltproduktion entfällt auf den Marktführer Adidas. Daß Pakistans D-Jugend die hauseigenen Bälle näht, hat Adidas nie entdecken können, wollte Adidas wohl auch nie entdecken. Denn wer durch Sialkots Straßen läuft, der sieht die Garagen, Baracken und Hinterhöfe allerorten, in denen die Jungen und Mädchen vor buntbedruckten Kunstlederteilen in die Knie gehen.

Adidas, das mit dem Predator-Cup hierzulande Kids für den Fußball, genauer für Adidas-Bälle, Adidas-Schuhe oder Adidas-Stutzen gewinnen möchte, beruft sich auf Verträge, in denen das Unternehmen Kinderarbeit untersagt. Dabei weiß jeder, daß in Pakistan die Verträge das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind. Und wenn Adidas schon mal kontrolliert, dann in Vorzeigebetrieben, in denen ausschließlich Erwachsene den Bällen den letzten Schliff geben.

Nicht nur Adidas, nicht nur Puma, Reebok, Derbystar, Mitre und all die anderen Ballhersteller, auch der DFB hat bislang nichts gehört, nichts gesehen, nichts gesagt. Der DFB, traditionell eng mit dem Hause Adidas verbunden, hat zwar ein Kinderhilfswerk in Mexico und zudem jede Menge Ausländer als Freunde – pakistanische Kinderarbeiter aber sind bislang nicht darunter. Fragt man den weltgrößten Sportverband nach der Herstellung von Bällen, bekommt man einen knappen Verweis auf die Produzenten, auf Adidas. Über die FIFA, die – Stichwort Prüfsiegel – ab Januar 1996 an jedem Wettbewerbsball mitverdient, brauchen wir erst gar nicht zu sprechen.

Natürlich ist Kinderarbeit auch in Pakistan offiziell verboten. Doch sie ist längst geduldete Realität. Selbst Terre des Hommes (TDH), die Kinderschutzorganisation, hält eine sofortige Abschaffung für unrealistisch, ist gegen Boykottaufrufe, weil sie den Kindern und Eltern noch mehr schaden. Eine längerfristige Strategie muß her.

Erster Schritt, so TDH-Sprecherin Barbara Küppers, müsse höherer Lohn für die Kinder, bessere Gesundheitsvorsorge, beschränkte Arbeitszeit und wenigstens eine minimale Schulbildung sein. Im zweiten Schritt dann sollen nur noch Erwachsene die Arbeit verrichten – und zwar in Pakistan, weil das arme Land Arbeitsplätze braucht. Barbara Küppers hält nichts davon, die Produktion nach Deutschland zu verlagern.

Tatsächlich plant Adidas den Beginn einer kleinen Ballproduktion in Deutschland, ganz in der Nähe vom Firmensitz Herzogenaurach. Dort sollen – von Erwachsenen – vor allem teure Bälle gefertigt werden – wohl auch der Ball für die EM 1996, dessen Name top secret ist.

Die einfachen Bälle werden weiter in Sialkot, Pakistan und in Vietnam hergestellt, in einfachen Ländern. Einen Predator-Cup wird es dort vorerst kaum geben. Dafür weiter streetball der besonderen Art.