„Die Priorität hat der Sport, der Sport und nochmal der Sport“

(mt/rk) Der DFB hat seine Bewerbung für die WM 2006 abgeschickt und wartet nun noch bis zum Jahre 2000 auf eine Antwort. Inzwischen war SCHALKE UNSER in der DFB-Zentrale in Frankfurt zu Gast und unterhielt sich mit DFB-Pressesprecher WOLFGANG NIERSBACH über die WM, Versitzplatzung der Stadien, Neonazis bei Länderspielen und Franz Beckenbauers Ehefrau.

Cover SCHALKE UNSER 15
SCHALKE UNSER 15

SCHALKE UNSER:

Herr Niersbach, wie sind Sie, nachdem Sie 15 Jahre lang beim Sportinformationsdienst (sid) waren, zum DFB bekommen?

WOLFGANG NIERSBACH:

Ich wurde gefragt, ob ich den Pressechef bei der EM ’88 machen wollte. Das habe ich dann gemacht und habe mich für diese Zeit beim `sid´ beurlauben lassen. Dann kam die Frage auf, ob ich nicht ganz nach Frankfurt wechseln wollte. Ich habe dann lange mit mir gerungen, da es mir unheimlich schwer gefallen ist von Düsseldorf wegzuziehen. Aber letztendlich habe ich den Schritt gemacht. Hier habe ich meine Frau kennengelernt, die sinnigerweise mit der heutigen Frau Beckenbauer auf einem Büro hier in der DFB-Zentrale gearbeitet hat. Ich habe zwei Töchter, die beide hier in Frankfurt geboren wurden, und ich wohne im früheren Haus von Jörg Berger. Als Jörg Berger von Frankfurt nach Köln wegging, da rief er mich an und sagte, daß er da etwas für mich hätte.

SCHALKE UNSER:

Was war denn das schönste Erlebnis in all der Zeit?

WOLFGANG NIERSBACH:

Die WM in Italien, ganz klar, sowas wird es wahrscheinlich auch nie wieder geben. England war von der Atmosphäre in Wembley her auch super. Aber in Italien hat einfach alles gestimmt. Auf der Abschlußfeier in Rom hat man morgens um halb vier in der Villa Borghesiana über den Dächern von Rom gesessen, und als es hell wurde, konnte man auf die Stadt `runtergucken und morgens um halb sieben saß ich immer noch da. Egal, was einem beruflich oder privat widerfährt, dieses Erlebnis kann einem keiner mehr nehmen.

SCHALKE UNSER:

Fühlen Sie etwas besonderes, wenn die Nationalhymne gespielt wird?

WOLFGANG NIERSBACH:

Es ist etwas besonderes. Man merkt, daß das Vorgeplänkel vorbei ist und daß es ernst wird. Jedes Länderspiel ist organisatorisch eine Wahnsinnsanspannung. Man hat 250 schreibende Journalisten, 100 Fotografen mit Sonderwünschen, dazu Fernsehen und Hörfunk. Beim Spiel habe ich eigentlich Ruhe. `Eigentlich´ ­ wenn sich wie in Bremen Bobic verletzt, wollen alle wissen, was er hat. Dann müssen wir organisieren, daß nicht 200 Journalisten in den Innenraum laufen, und das ist mein Job, zu vermitteln, was passiert ist.

SCHALKE UNSER:

Singen Sie denn bei der Nationalhymne mit?

WOLFGANG NIERSBACH:

Nein, ich kann nicht singen. Ich hab mich aber dafür eingesetzt, daß wir beim DFB-Pokalfinale den Musicalstar Anna Maria Kaufmann als Sängerin hatten, weil mir das in Amerika immer gut gefallen hatte. Nicht, daß ich jetzt ein übertriebener Patriot wäre, aber ich finde, daß durch den Vortrag der Nationalhymne das ganze Ambiente auch einen feierlichen Charakter bekommt.

SCHALKE UNSER:

Es gibt aber auch viele Fußballfans, die ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Nation haben, auch zwischen ihrem Verein und der Nationalmannschaft. Sind Sie stolz, ein Deutscher zu sein, wenn die Nationalhymne gespielt wird?

WOLFGANG NIERSBACH:

Ja, Deutschland ist meine Heimat. Aber es stimmt schon, daß wir – und das erkläre ich aus der Geschichte heraus – ein gespaltenes Verhältnis zu allem haben, was man als Nationalstolz bezeichnet. Aber „ein gespaltenes Verhältnis zur Nationalmannschaft“? Die Beobachtung habe ich nicht gemacht. Ich sehe immer, daß gerade wenn die Nationalmannschaft auf Turnieren spielt, daß sich dann das Fußballinteresse eines ganzen Landes bündelt. Und das zeigen auch die Einschaltquoten im Fernsehen, daß bei Länderspielen alles zum Bildschirm kriecht, was überhaupt nur kriechen kann. Wenn Schalke den UEFA-Cup gewinnt, dann spielt ganz Gelsenkirchen verrückt, aber wenn Deutschland Weltmeister wird, dann spielt ganz Deutschland verrückt.

SCHALKE UNSER:

Der DFB hat sich um die Ausrichtung der WM 2006 beworben…

WOLFGANG NIERSBACH:

Erst einmal wird es ein wahnsinniger Kampf, die Weltmeisterschaft zu bekommen. Das wird erst 2000 entschieden, und bis dahin brauchen wir einen langen Atem. Aber selbst wenn wir im Jahre 2000 ein „No“ von der FIFA bekämen, hat sich die Infrastruktur des Fußballs verbessert, und es ist im Sportstätten- und Stadionbau endlich etwas passiert. Schaut doch ‚mal die Stadien in Berlin oder Hamburg an! Das sind doch Stadien, die passen nicht mehr in unsere Zeit.

SCHALKE UNSER:

Ist denn jetzt das Stadion in Leverkusen das Non-plus-ultra?

WOLFGANG NIERSBACH:

Von der Größe her nicht.

SCHALKE UNSER:

Aber doch sicher auch nicht für den Fan.

WOLFGANG NIERSBACH:

Denke ich schon, ich weiß jetzt nicht worauf Sie abzielen, aber von der Idee her, dieses Stadion eben nicht nur samstags zum Fußball zu nutzen – da ist McDonalds drin und es sind Tagungen möglich – das ist sinnvoll, denn sonst kriegt man die Dinger ja gar nicht mehr finanziert.

SCHALKE UNSER:

Wir befürchten, daß es durch die WM 2006 in Deutschland dazu kommt, daß wir demnächst Fußball nur noch in rein versitztplatzten Stadien sehen können. Ab dieser Saison dürfen bei internationalen Spielen nur noch 20 Prozent des gesamten Fassungsvermögens als Stehplätze ausgegeben werden, ab 1998 wird es gar keine Stehplätze mehr geben. Wir befürchten, daß die neuen Stadien überhaupt keine Stehplätze mehr haben – auch nicht für den normalen Liga-Betrieb.

WOLFGANG NIERSBACH:

Unsere Position ist klar: Fakt ist, daß ein internationales Ereignis demnächst nur noch vor sitzendem Publikum durchgeführt werden darf. Das ist definitiv. In England ist dies staatliches Gesetz geworden, da ist kein Verband oder Verein gefragt worden. Die 20­Prozentregelung (bei einem Fassungsvermögen des Parkstadions von 70 000 wird es noch 14 000 Stehplätze bei de UEFA-Cup-Heimspielen geben) ist nur dank Egidius Braun bei der UEFA durchgesetzt worden. Die UEFA wollte die Nullösung schon vor drei oder vier Jahren. Da kann man nun auf und ab stundenlang diskutieren. Wir stehen in der UEFA fast alleine da mit dem Vorpreschen Richtung Stehplatz und international wird es keine Abkehr mehr geben. Im nationalen Bereich, Bundesliga und DFB-Pokal, will der DFB die Stehplätze erhalten. Für uns scheinen die versenkbaren Vario-Sitze die optimale Lösung zu bieten. Wir sind da gerade im Gespräch mit Dortmund, da wir dort am 10. 9. das Länderspiel gegen Armenien haben – es ist doch ein Unding, daß wir dort vor die leere Südtribüne zuspielen. Wir brauchen schon bei diesem Spiel diese variable Lösung, und da wird jetzt schon dran gebaut.

SCHALKE UNSER:

Ist es denn nicht vielleicht auch möglich, so wie in Schalke einfach Sitzkissen zu verteilen?

WOLFGANG NIERSBACH:

Ich hatte vorhin noch den Sicherheitsbeauftragten Willi Hennes am Apparat, der hatte sich für diese Lösung ausgesprochen. Das hatte der Hennes alles auf seine Kappe genommen, und das ist heftigst bei der UEFA kritisiert worden. Die sagten: „Nie mehr!“ Also, das wird’s in Schalke nicht mehr geben. Ich hatte auch erst lapidar gesagt „Laßt uns das in Dortmund auch so machen“, aber die für die WM­Qualifikation zuständige FIFA gibt uns keine Genehmigung.

SCHALKE UNSER:

Aber es ist doch eine verrückte Welt. Die Fans bezahlen 40 Mark für einen Sitzplatz und stehen dann auf den Sitzschalen. Uns kommt das doch schon ein bißchen wie Abzockerei vor. Und den Sicherheitsgedanken, der ja dahintersteckt, sehen wir auch nicht unbedingt.

WOLFGANG NIERSBACH:

Sagen Sie mir ein anderes Ereignis, wo man sich freiwillig drei Stunden hinstellt, obwohl man einen Sitzplatz bezahlt hat. Da kann man argumentieren: Das ist genauso verrückt. Sitzplätze sind sicherer, hundertprozentig. Mit Geldschneiderei hat das nichts zu tun. Die Maßnahmen von FIFA und UEFA sind nicht finanziell motiviert. Hundertprozentig nein. Auslöser war die Sheffield­Katastrophe, das war mangelhafte Organisation und Fehlverhalten der Ordnungskräfte, aber ausgelöst durch einen unkontrollierbaren Stehplatzbereich. In der Bundesliga liegen die Preise im unteren Drittel Europas. Der DFB hat in seine Bestimmungen die Verpflichtung aufgenommen, daß den Gästefans genau die billigste Preiskategorie angeboten werden muß, die auch der eigene Fan hat. Fußball muß bezahlbar bleiben, da sehen wir auch eine politische Verpflichtung.

SCHALKE UNSER:

Der Fußball verändert im Augenblick total sein Gesicht: Pay-TV, das Diktat der Anstoßzeiten durch TV-Sender und die Umwandlung von Fußballvereinen in Aktiengesellschaften. Wie sieht der DFB diese Entwicklung?

WOLFGANG NIERSBACH:

Auf der einen Seite gibt es natürlich die Explosion der Spielergehälter. Die mißfällt uns total, aber die ist nicht zu stoppen. Und die Fernseheinahmen sind für die Vereine überaus bedeutsam geworden. Als ich 1973 angefangen habe zu schreiben, da hat jeder Verein in der Saison 300 000 Mark bekommen, heute erhält jeder bereits einen Sockelbetrag von fünf Millionen. Das macht die Dimension deutlich. Aber eines muß man den Fernsehsendern klarmachen: Wir lassen überhaupt nicht mit uns sprechen, wenn es um diese 90 Minuten geht: der Versuch zu dritteln oder zu vierteln oder womöglich noch ein Interview mit dem Schützen vor dem Elfmeter zu machen, um ihn zu fragen „in welche Ecke schießt Du?“ – wenn dort der Sport und der Fußball nicht aufpaßt, das wäre für mich das Ende. Die Priorität hat der Sport, der Sport und nochmal der Sport. Und dann erst reden wir über Fernsehen, Bandenwerbung, usw.

SCHALKE UNSER:

Wie ist denn das Verhalten der Schalker Fans im UEFA-Cup beim DFB angekommen?

WOLFGANG NIERSBACH:

Sensationell! Gerade auch in Mailand, wo der Berti total begeistert war, obwohl er auch nachmittags im Restaurant von einer Gruppe weniger feine Sprüche zu hören bekam. Aber das liegt an der ganzen Sache mit Assauer, die total unnötig aufgebauscht wurde. Und nachdem das so aufgeheizt wurde, kann ich auch den Trainer verstehen, wenn er lange nicht im Parkstadion war.

SCHALKE UNSER:

Schalke hat in den vergangenen zwei Jahren sehr erfolgreichen Fußball gespielt ­ warum setzt er sich lieber nahezu alle vierzehn Tage zwischen Rudi Völler und Rainer Calmund, statt einmal auf Schalke zu kommen?

WOLFGANG NIERSBACH:

Das sind genau die Argumente Assauers. Herzlichen Glückwunsch. So werden nämlich die Argumente total übernommen und am Ende kommt heraus, daß angeblich alle Schalker gegen Berti Vogts sind, was ja gar nicht stimmt. Aber das Gleiche hatten wir vor zwei Jahren mit Effenberg, da haben sie gesagt „der Berti ist Ehrenmitglied bei Gladbach und kommt nicht nach Gladbach.“ Aber insgesamt versucht der Bundestrainer schon so ziemlich alle Mannschaften ob zu Hause oder auswärts zu beobachten.

SCHALKE UNSER:

Wie sehen Sie denn die Entwicklung der Ausländerfeindlichkeit in den deutschen Stadien? Uns fällt auf, daß sich Rechtsradikale vor allen Dingen bei den Länderspielen austoben. Wir denken da an die Spiele in Wien gegen österreich, in Rotterdam gegen Holland und in Zabrze gegen Polen. Was kann der DFB dagegen machen?

WOLFGANG NIERSBACH:

In der Bundesliga ist das erfreulicherweise kaum noch ein Problem. Und wir leben es ja auch im Fußball vor, daß es da überhaupt keine Probleme gibt. Es gibt auch bei den Heimländerspielen keine Probleme. Aber es hat Probleme bei einigen Auswärtsbegegnungen gegeben – wobei es in Holland sogar ein Gesetz gibt, daß das Rufen dieser Affenlaute verboten sind. Das ist für die Polizei Grund genug dort einzugreifen; es sind in der holländischen Liga Spiele deswegen abgebrochen worden! Zum Glück ist Rotterdam nicht abgebrochen worden, denn das wäre die Eskalation schlechthin geworden. Wir sind da mehr oder weniger machtlos. Der Kartenverkauf läßt sich überhaupt nicht so steuern. Speziell in Rotterdam ist präventiv alles gemacht worden, was überhaupt gemacht werden konnte. Aber selbst wenn wir wollten, wir dürfen dort überhaupt nicht eingreifen. Wir haben ja auch schon gesagt, daß wir Beamte aus Deutschland mitbringen, aber die dürfen im Ausland Straftaten nicht einmal anzeigen. In Zabrze war bekannt, welche Gruppen wie anreisen. Am Bahnhof in Kattowitz kommen die an und werden mit Polizeieskorte zum Stadion gebracht. Und im Stadion läßt man sie dann wüten. Die haben ganz gezielt auf den Beginn der Fernsehübertragung gewartet und dann ihr Transparent entrollt. Was macht der DFB? Wir haben da null Chance. Wir sind Gäste in Polen. Wir hatten ja auch Zivilpolizisten mit dabei, aber die dürfen nicht aktiv werden. Mir persönlich fehlt da die Detailkenntnis, ob diese Leute, die bei besagten Länderspielen dabei waren, überhaupt im normalen Bundesligageschehen auftauchen oder ob die sich gerade bei den Länderspielen zusammenrotten. Wie auch immer – da passieren Dinge, die sind einfach unglaublich. Das ist echt ein Thema, wo man die totale Ohnmacht empfindet.

SCHALKE UNSER:

Aber kann man denn da gar nichts gegen unternehmen? Es müssen sich doch die Personalien feststellen lassen und diesen Leuten Stadionverbote erteilt werden können!

WOLFGANG NIERSBACH:

Sie rennen da bei mir offene Türen ein. Noch verrückter war es in Luxemburg 1990, da haben sie wieder gewütet. Es sind 39 Personen vorläufig festgenommen worden, von denen hat man die Personalien auch festgestellt. Der DFB ist wegen dieser Ausschreitungen auch von der UEFA bestraft worden. Wir haben dann bei der Staatsanwaltschaft Trier beantragt, daß man uns die Namen dieser 39 Personen zu geben, damit wir zumindest bundesweit ein Stadionverbot verhängen können. Man hat uns die Herausgabe der Namen verweigert und mitgeteilt, daß nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Trier keine deutschen Bundesbürger an Straftaten in Luxemburg beteiligt waren. So, jetzt sind Sie dran. Wir werden bestraft von der UEFA, die sagen „das waren Eure“ und die eigene Justiz „es waren überhaupt keine Deutschen“. Und natürlich waren es Deutsche.

SCHALKE UNSER:

Nach dem Spiel in Zabrze hatten einige BVB-Fans bei ihrem Spiel gegen Widzew Lodz ein Transparent aufgehängt: „Entschuldigung für Zabrze“. Daraufhin wurden fünf Fans vom DFB zum Länderspiel nach Israel eingeladen. Nun steckte hier keine Gruppe dahinter, die aktiv gegen Ausländerfeindlichkeit arbeitet, sondern wirklich nur um ein Transparent. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, eine Organisation einzuladen, die sich fortwährend und tagtäglich gegen Rassismus einsetzt?

WOLFGANG NIERSBACH:

Das war von denen eine spontane Aktion, weil die gerade gegen Lodz gespielt haben. Und es war eine spontane Reaktion unsererseits. Wir fanden das toll, daß die so reagiert haben. Das war eine oder zwei Wochen nach dem Spiel in Zabrze und das hat wiederum unheimlich positive Wellen in Polen geschlagen. Und wir hatten das Gefühl, daß wir uns dafür bedanken sollten.

SCHALKE UNSER:

Vielen Dank für das Gespräch. Glückauf.