Die vierte Halbzeit

(mac) Essen, Landgericht, zweite große Strafkammer, ein Mittwoch im Juni. Der zwölfte von 27 vorgesehenen Verhandlungstagen im Hooligan-Prozeß – rein juristisch betrachtet ist es ein unspektakulärer Tag ohne sensationelle Wendungen, medial gesehen aber ein aufregender: Zum zweiten Mal ist die Nebenklage vertreten, die Familie Nivel, die dem Prozeß den Namen gegeben hat.

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Richter Rudolf Esders ist erfahren, wenn es darum geht, Prozesse souverän zu führen, auf die das ganze Land und nun sogar noch ein anderes schaut. Er hat im Brennpunkt von Fernsehkameras und Kommentatoren das Gladbecker Geiseldrama hinter sich gebracht, und nun hat ihm der Zufall einer unglaublichen Brutalität den Fall Nivel beschert.

Wieder sind vor Verhandlungsbeginn die Akkulampen der TV-Teams auf ihn und die Geschworenen gerichtet, und wieder wird seine Prozeßführung analysiert und bis ins Detail seziert. Und Esders ist wieder nicht zu beneiden. Längst hat die Volksseele das Urteil gefällt – Michael Schumacher, wenn der denn die Volksseele repräsentiert, plädierte dafür, Hooligans einschläfern zu lassen. Doch die Moral, die Schande von Lens, hat den 59jährigen so wenig zu interessieren wie das Interesse aus Frankreich. Esders muß dem deutschen Strafrecht genügen, muß Beweise oder Indizien finden, muß stichhaltig urteilen – nicht mehr und nicht weniger.

Am zwölften Verhandlungstag, dem letzten vor der Sommerpause, sind als Zeugen die beiden Kollegen von Daniel Nivel geladen, die dabei waren, als das Trauma seinen Lauf nahm. Sie waren der Meute noch entkommen an jenem 21. Juni, nicht aber ihr Chef. Knapp ein Jahr später kann niemand sagen, ob dieser Gendarm Nivel seine Kollegen erkennt oder nicht. Niemand, auch seine Frau nicht, weiß, was der 44jährige Mann empfindet im großen Verhandlungssaal 101 des Essener Landgerichtes, ob er überhaupt etwas empfindet. Starr und apathisch wirken seine Blicke, die sich während der ausführlichen Vernehmung abwechselnd gen Gericht und Zeugenstand richten.

Starr und apathisch ist sein Gesicht selbst dann, wenn es vom Blitzlichtgewitter aufgehellt wird. Wie auch in ein solch geschädigtes, zertrümmertes Gehirn schauen? Wie einen Mann verstehen, der physisch anwesend ist, aber sein Leben verloren hat? Sechs Wochen Koma, danach Lähmungen, Sprachstörungen, Trübung fast aller Sinne – das ist die Bilanz. Am Vortag mußte Richter Esders Nivels Frau Lorette fragen, wenn es um Erinnerungsvermögen und Defekte des Menschen ging, der – in seiner eigenen Blutlache liegend – als Foto um die Medienwelt ging. Kann er sich erinnern? Nimmt er die Situation im Gerichtssaal war? Erkennt er die vier Angeklagten? Lorette Nivel antwortet für ihn, antwortet für ihren Mann, der ein Wrack geworden ist, und von dem niemand sagen kann, ob er die Fragen überhaupt registriert.

An diesem zwölften Verhandlungstag ist Rechtssprechung wie so oft Detailarbeit. Die Zeugen werden befragt. Welchen Schutz trugen die Gendarmen bei ihrem Einsatz in Lens? Hatten sie einen Schutzhelm auf, und war er verschlossen und wie? Hatte auch Nivel einen Helm auf, und war der verschlossen? Mit welchen Waffen waren die Gendarmen versehen? Wie lädt man die Tränengas-Granaten?

Fotos werden projiziert. Ausschnitte, die die Wahrheit näher bringen sollen, sind so stark vergrößert, daß Journalisten und Zuschauer nichts mehr erkennen können. Ein Foto läßt erahnen, daß die Gendarmen darauf ohne Helm zu sehen sind. Das sei nach dem Mittagessen unmittelbar vor dem Einsatz aufgenommen worden, gesteht einer der Zeugen verlegen auf Nachfrage, nachdem er anfangs behauptet hatte, die Helme seien die ganze Zeit über getragen worden an jenem Tag. Eine französische Journalistin empört sich ein wenig über die ungeschickten Äußerungen des Gendarmen. Der Wahrheit oder der Bestrafung kommt man so nicht näher.

Esders nutzt die Mittagspause, um einen Zollstock heranschaffen zu lassen. Der Gewehr-Aufsatz für die Tränengas-Granaten wird vermessen. 47 Zentimeter in zusammengeschraubtem Zustand. Das ist wichtig, weil bei der Brutalität gegen Nivel außer einem Holzschild auch ein metallener Aufsatz etwa dieser Größe im Spiel gewesen sein soll.

Die vier Angeklagten können an diesem Tag durchatmen. Die Abwehr steht. Kein Tor gefangen, kein Eigentor geschossen. Keiner der beiden Zeugen hat sie wiedererkannt. Belastet wird nur der Angeklagte Warnecke, der in Frankreich vor Gericht steht.

Einer der Angeklagten, Christopher Rauch aus der Nähe von Berlin, hat eine solide Verteidigung um sich geschart und noch kein Wort gesagt seit Prozeßbeginn. Mit seinen drei Anwälten bildet er eine geschlossene Viererkette. Rauch ist jener, von dem alle Medien berichteten, er sehe selbst aus wie ein Anwalt. Tatsächlich ist ihm mit seiner gepflegt mittelgescheitelten Gelfrisur und seiner modisch-intellektuellen Durchblickbrille eventueller Spaß an der dritten Halbzeit nicht zuzutrauen. Immer wieder studiert er die Akten im gleichen Habitus wie seine Anwälte, immer wieder grüßt er charmant seine sonnenbankbraune Freundin in den Zuschauerrängen. Er ist dann einer von ihnen, den Anwälten, keiner von denen, den Hooligans. Und als einziger ist er, dem das Zuschlagen mit dem Holzschild zur Last gelegt wird, auf keinem belastenden Foto zu erkennen.

Rein vom Äußeren nimmt man dem hinter ihm sitzenden Tobias Reifschläger den Nachnamen am ehesten ab. Aber das ist reine Spekulation und auf keinen Fall ein Beweis. Gelegentlich bespricht er sich während der Verhandlung mit dem adretten Rauch. Reifschläger hat sich bei Daniel Nivel für ein, zwei Tritte entschuldigt, hat sozusagen öffentlich Reue gezeigt. Doch dieses zugestandene Foul war keinesfalls das, das die Partie so vernichtend entschieden hat. Das war die Botschaft der Stimme zum Spiel, die nicht in „ran“ oder in der ersten Reihe zu hören war, sondern im Essener Landgericht. Völlig unscheinbar wirken dagegen die beiden anderen Angeklagten, Frank Renger und der ganz außen plazierte André Zawacki, beide aus Gelsenkirchen. Renger wirkt sehr sensibel. Seine Hände verkrampfen sich die gesamte Prozeßdauer über zu einer Faust. Zawacki wirkt apathisch. Ahnt er, was die Experten der Presse über ihn sagen? Ahnt er, daß er der meistbelastete Angeklagte sein soll? Ahnt er, daß ihm alleine angeblich eine lebenslange Freiheitsstrafe droht, weil er mit dem Gewehraufsatz Daniel Nivels Schädel zertrümmert haben soll?

Richter Esders hat an diesem Tag Gelegenheit, seine Souveränität unter Beweis zu stellen. Er sieht sich mit Gutachter-Anträgen aus den Reihen der Verteidigung konfrontiert. Verminderte Schuldfähigkeit soll nachgewiesen werden – wegen zehn Halben einerseits und wegen „gruppendynamischer Prozesse“ andererseits – Adrenalin und „the final kick“ und so. Nur ein Experte, so die Anwälte, komme dafür in Frage – ein Sachverständiger aus Gießen. Esders fragt nach, ob die Verteidiger auf eben diesem Psychiater bestehen und wie sie sich verhalten würden, wenn er einen anderen berufen würde.

In diesem Moment hat Esders eine greifbare Autorität, die über das – nicht gerade geringe – Selbstbewußtsein der Anwälte deutlich hinausgeht. Doch die sind empört über das Ansinnen von Richter und Staatsanwalt. Sie werden dann nicht mitspielen, werden nicht mit dem Gericht kooperieren. Für die Beobachter jenseits der Absperrkordel schien es wie eine Vorentscheidung.

Fast konnte man sich einbilden, Esders‘ Ahnung mit Händen greifen zu können: Dieses Spiel wird wohl nicht zu gewinnen sein. Nicht Chancen sind wichtig, sondern Tore, klar zählbare Ergebnisse. Recht und Gerechtigkeit sind zweierlei Fußballstiefel. Und maßgeblich ist immer noch auf dem Platz – auch in der vierten Halbzeit.