Rolling Home – Ich werde die Rolltreppe vermissen

(mac) Als ich noch mal da war zum Abschiednehmen, lagen die Ränge unwirklich stumm und betongewaltig vor mir. Mutmaßliche 630-Mark-Menschen bliesen mit ihren Maschinen den Unrat des letzten Spieltages, des großen Desasters, zu großen Haufen zusammen. Es war eine Entsorgung. Ich ließ meine Augen wandern entlang des Rosts an der Treppe, die geplant war für triumphale Pokalübergaben. Ließ sie schweifen über die früher schon überflüssig gewordene Anzeigetafel in der Nordkurve. Ließ sie weiter streifen und schließlich innehalten an der Rolltreppe.

Cover SCHALKE UNSER 31
SCHALKE UNSER 31

Wie lange mag es immer gedauert haben, fragte ich mich, bis die Spieler hinuntergefahren kamen aufs große Feld in all den Jahren. Ich kam auf fünfzehn Sekunden. Handgestoppt. Und zwar im Kaufhof Köln, auf dem Weg von der Haushalts- zur Sportabteilung, denn das Original zu testen blieb mir verwehrt an diesem Montag im Parkstadion zu Gelsenkirchen. Längst war die Zukunft da, das letzte Spiel abgepfiffen, die Reste eines Dramas hochmodern zusammengekehrt, und die Rolltreppe gründlich deutsch gesperrt. Betreten für Unbefugte verboten, sagte das Schild unmissverständlich. Natürlich war ich unbefugt. Finale.

Fünfzehn Sekunden vermutlich dauerte es also, bis die Spieler von ihren Kabinen aufs Feld schwebten. Ja, sie schwebten. Und diese geschätzten fünfzehn Sekunden waren – ich kann es nicht anders sagen – magisch. Es waren fünfzehn Sekunden der noch gar nicht erfundenen Superzeitlupe. Entschleunigung. Bremse. Fast Weltstillstand. Alle Anspannung löste sich endlich. Nach Anreise und Aufregung, nach Angst vor Scheitern und Hoffnung auf Obsiegen: Sie kamen endlich. Und sie kamen stets langsam.

Schalke – wir alle wissen es – ist natürlich ein besonderer Verein. Der besonderste sogar, gar kein Vertun. Keiner ist mehr Ruhrgebiet, keiner mehr Mythos. Wegen keinem anderen wurde die Bundesliga mal aufgestockt. Und kein Club, dessen Vorortname bekannter wäre als die Stadt, aus der er kommt – St. Pauli eingeschlossen. Erbsensuppe und Bratwurstpräsidenten, der Steiger kommt, aber die Rolltreppe geht. Glückauf. Denn bei aller Vorfreude auf die Arena: Diese Rolltreppe, dieses einmalige Symbol, sie wird fehlen. Wird mir sehr fehlen. Es gab sie nirgends sonst. Und sie zu verpflanzen wie einst Christian Barnaard das erste menschliche Herz – das hätte mich glücklich gemacht.

Die Rolltreppe: Das war das ungehörte Geräusch von Metall auf Metall, von Stollen auf fahrenden Treppen. Das war das Einfahren der Knappen und ihrer Gegner in die Grube, in das weite Rund, auf die Wahrheit des Platzes. Das waren angespannte Gesichter, flackernde Augen vielleicht, Halt suchend und armgestützt in den nervösen Sekunden davor. Das waren unbeholfene Gespräche mit den Rivalen. Das war im Zweifel gebeugter Rücken oder stolzgeschwellte Brust danach. Das war das Eintauchen in tosenden Lärm und das Verschwinden aus tosenden Lärm. Das war das Gleiten der Gladiatoren, geschlagen oder gefeiert – anders als überall sonst in den Epizentren der Fußballrepublik. Einmalig. Einzigartig. Erhaben. Fünfzehn Sekunden lang vielleicht. Wenigstens.

Die Rolltreppe, rückblickt Ingo Anderbrügge, war ein Geschenk für jeden abkommandierten Kameramann: „Mindestens bei jedem zweiten Heimspiel war sie mit uns im Bild. Wohl ganz praktisch, weil unsere Gesichter nacheinander effektvoll auf die Mattscheibe gefahren wurden.“ Die Rolltreppe jedenfalls war auf jeden Fall Schalke und nirgend sonst. Doch der locker vorgetragene Wunsch aus der Mannschaft, die Rolltreppe in die neue Arena zu verpflanzen, erzählt Anderbrügge, fand bei Rudi Assauer kein Gehör. Bedauern also selbst bei ihm, dem so Geschäftsmäßigen, dem doch eher Spröden und wenig Nahbaren. Dem Vernehmen nach soll es auch eine Rolltreppe in der neuen Arena geben, doch keine mit diesem sichtbaren Zauber.

Spricht man Anderbrügge, den professionellen Profi, auf die Rolltreppe an, erinnert er sich lebhaft, dass sie während der zweiten Liga mal kaputt war. Und dass es eine echte Freude gewesen sei, als sie endlich wieder funktionierte. Alle, sagt er und vergisst einen Moment seine Postprofirendite, ja wird fast zum Kind, fuhren gerne Rolltreppe. Und ergänzt, dass da ja immer einer habe stehen müssen, der die Richtung ändert. Aufwärts und abwärts – ewige Metaphern des Fußballs, zumal auf Schalke – handgesteuert und TÜV-geprüft noch bis 2002.

Als ich an jenem Montag ein letztes Mal im Stadion war, sah ich die Aufkleber am rechten Handlauf. Sie geboten, Hunde auf den Arm zu nehmen und Kinder an die Hand. Irrsinn des Warentestlands. Der zuständige Sicherheitsbeamte war gewiss auch in der Niederlage gnadenlos: Schneller nach oben ging’s auch gedemütigt nicht. Ein ewiges Kommen und Gehen, Auftauchen und Entschwinden im ewig gleichen Rhythmus des Lebens. Die Rolltreppe war ein melancholischer Ort wie alle großen dieser Welt.

Und hätte ich einen Wunsch frei, wünschte ich mir diese nachträgliche Herzverpflanzung. Diesen Verweis auf das Früher, auf das Herkommen, auf unser aller Zuhause und auf die zärtliche Traurigkeit des Seins. Rolling home: Meine Güte, die Medizin ist doch längst soweit.