Das war versuchter Mord

(svs) Bekanntlich findet 2012 die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine statt. Während die Schalker Fan-Initiative schon eine Reihe von Projekten mit und in Polen durchgeführt hatte, fuhr ein Ini-Fußball-Team im letzten Jahr zu einem international besetzten Fußballturnier nach Lviv (Lemberg). Dabei schlossen wir Freundschaft mit mehreren Leuten aus der Hauptstadt Kiew. Eugen, der hervorragend Deutsch sprach, lud uns für dieses Jahr zu einem von ihm organisierten Turnier nach Kiew ein. Leider klappte es diesmal nicht, ein ganzes Team in die Ukraine zu bekommen. Trotzdem wollten wir uns den Trip nicht nehmen lassen und so flogen letztlich vier Schalker Ende August zum EM-Finalort 2012. 

Cover SCHALKE UNSER 68
SCHALKE UNSER 68

Kiew ist in jeder Hinsicht beeindruckend und gewiss eine Reise wert. Neben stalinscher Zuckerbäcker-Architektur hat die ukrainische Hauptstadt auch für den kulturinteressierten Besucher viel zu bieten. Natürlich interessierten wir uns neben den unzähligen Sehenswürdigkeiten der überaus hügeligen 2,7-Millionen-Metrole am Dnjeper vor allem für die Fußballszene vor Ort. Und das wurde außergewöhnlicher als wir wohl alle dachten. Wir schauten uns mehrere Spiele des Fan-Turniers an und waren positiv erstaunt, dass es trotz ausschließlich osteuropäischer Fans aus Polen, Weißrussland, Russland und natürlich der Ukraine gelang, das Turnier faschofrei zu halten. Leider nicht selbstverständlich, wie wir im vergangenen Jahr in Lemberg erleben mussten.

Hier treffen wir auch Igor, den wir bereits in Lemberg kennengelernt hatten. Er ist fürchterlich dünn geworden ist. Kein Wunder: Er hat anfangs des Jahres nach einem Spiel des Kiewer Vereins Obolon unvermittelt schwere Schläge ins Gesicht bekommen. Kiefer- und Jochbeinbruch, lange Monate Ernährung mit dem Strohhalm, 15 Kilo Gewichtsverlust. Seine Konsequenz: Er will den Fußball hier aus der Fanszene heraus ändern und hat damit beim CL-Spiel gegen Ajax schon angefangen. Er half etwa zwei Holländern, die unter „Juden“-Beschimpfungen von Dinamo-Fans zusammen geschlagen worden waren. Er erzählt uns, dass die rechten Dinamo-Fans im harten Kern rund 20 Leute sind, die aber viele Mitläufer haben.

Abends gehen wir alle, auch viele der zum Turnier angereisten Spieler aus Russland und Weißrussland, zum Heimspiel Dinamo Kiew gegen Dnipro. Wir Deutschen sind erstaunt, auch viele Frauen und Familien sind zu sehen. Es handelt sich um das alte Dinamo-Stadion, da das neue gerade für die EM umgebaut wurde. Das Stadion ist nur mittelgroß und dennoch nicht voll. In einer Ecke die lautstarken Gästefans, auf der gleichen Seite in der anderen Ecke die ebenfalls laute Heimkurve. Und die nur rund 150 Fans am anderen Ende des Stadions, die auch für Dinamo Schals wedeln? Das ist der offizielle Fan-Club, der vom Verein organisiert wird. Armseliger Haufen.

In der ersten Hälfte vergibt Dinamo fleißig Chancen. In der Halbzeit verlassen Sven, Susanne und Eugen die engen Sitzschalen. Raus, Eistee holen (Bier gibt’s nicht), eine kleine Treppe rauf, um hier über die Werbebanden hinweg das Spiel sehen. Klasse! Zu Beginn der zweiten Halbzeit deutet Eugen auf den Eingang zu Sektor 14/15, wo zwei Security-Leute in gelben Westen gerade telefoniert haben. Von links kommen offensichtlich von der Security herbeigerufene Muskelprotze in Zivil. „Jetzt gibt es Ärger“, meint Eugen: Wir Deutschen starren verständnislos. Die Zivilen tragen erst einen, später noch drei Männer aus dem Block. Was die gemacht haben, konnten wir durch die Werbebanden nicht sehen. Wir denken noch, dass die vier jetzt einfach gehen müssen. Aber sie werden in die Ecke unten an der Treppe gedrängt – keine fünf Meter von uns entfernt. Und dann geht eine unfassbare Gewaltorgie los: Mit Fäusten und Tritten, auch gegen die hilflos am Boden liegenden Opfer. Immer wieder geht einer hin, um noch einen Schlag oder Tritt nachzusetzen. Nach langen Minuten, in denen wir hilflos sind, während Eugen mutig filmt, lassen sie von den Opfern ab. Eugen erklärt, dass dies nicht zum ersten Mal passiert, und die Security sich regelmäßig der Schläger bedient. Also muss der Verein davon wissen!

Und das ist brisant, denn der Vizepräsident von Dinamo, der laut Eugen für die Schläger-Security verantwortlich ist, ist der Bruder des Präsidenten des ukrainischen Fußballverbandes, der gleichzeitig OK-Chef für die EM ist. Er geht sogar noch zum Security-Chef und spricht ihn auf den Vorfall an. Er wird abgewiesen mit der Antwort, dass Fragen erst nach dem Spiel beantwortet werden würden. Jeder weiß zu diesem Zeitpunkt, dass das nie passieren wird, weil es Deckung von ganz oben gibt.

Irgendwie überleben wir das Spiel, lächeln sogar etwas, als nach dem Abpfiff (0:0) ein Fan auf den Platz rennt und „Sheva“ Schewtschenko um sein Trikot bittet. Mit der Beute läuft er hakenschlagend vor der Security mit Schäferhund davon und holt sich Credits bei den Fans ab – die er reichlich bekommt. Später treffen wir viele ukrainische Kollegen, essen, trinken, reden, hören zu. Eugen zeigt das Video und erntet Kopfschütteln. Am Abend versuchen wir, den Ukrainern das Konzept des Eingetragenen Vereins zu erklären. Die sind fassungslos und insistieren eine ganze Weile darauf, dass der Verein doch jemandem „gehören“ muss. Das Erstaunen muss man verstehen, denn es gibt keinen einzigen großen ukrainischen Verein, der nicht einer höchst zwielichtigen Person „gehören“ würde. Die Nacht ist wieder lang.

Doch den Vorfall konnten wir nicht vergessen. Auf Vermittlung einer weiteren Gesprächspartnerin, Institutsleiterin Dr. Mridulah Gosh, mit der wir vor der Reise einen Termin vereinbart hatten, bekamen wir einen Interviewtermin mit einer Journalistin von der Deutschen Welle Ukraine.

Die Konstellation ist witzig: Journalistin Olga fragt Susanne und Sven auf Englisch. Die antworten auf Deutsch und Eugen übersetzt es für Olga zurück auf Russisch/Ukrainisch. Nach einem allgemeinen Teil kommt auch der Vorfall im Dinamo-Stadion ausgiebig zur Sprache. Und wir nennen das Kind beim Namen: Das war versuchter Mord. Zum Beweis geben wir ihr auch das von Eugen gedrehte Video. Den Artikel der DW Ukraine könnt ihr euch übrigens auf www.fan-ini.de in deutscher Übersetzung durchlesen.

Bei der abschließenden Fotosession im Hof, treffen wir auf ein paar Leute, die uns böse angucken. Kein Wunder: Wir tragen das Logo der Schalke Fan-Initiative auf der Brust und die Böse-Gucker sind Mitglieder der Nationalist Party, die im gleichen Gebäude sitzt. Laut Mridula und Olga bestünde diese Partei aber hauptsächlich aus konservativen alten Leuten. Die abgesplitterte Svaboda beheimatete keine Gewalttäter und sei noch nicht im Schulterschluss mit den Neonazis. Na ja, glauben wir das mal.

Später treffen wir Pavel, ein Fan von Arsenal Kiew. Ein junger, netter Englischlehrer, der aber eher aus der Antifa- als aus der Fußballszene kommt. Das gilt übrigens auch für Arsenal: Der Club hat quasi überhaupt keine Fans. In dieses Vakuum ist eine Gruppe von rund 50-100 Antifa-Jugendliche gestoßen. Die mögen es gefährlich und abenteuerlich, denn alle anderen Vereine haben einen starken Nazi-Hool-Kern. Das gipfelte in einen Neo-Nazi-Angriff auf die Arsenal-Fans in der Woche davor. Im Ergebnis gab es zwei Schwerverletzte, unter anderem drei Messerstiche in den Rücken eines Arsenal-Fans.

Natürlich wollen wir tags darauf das Spiel von Arsenal gegen Obolon Kiew sehen. Wir reisen mit Taxi an: Das ist laut unseren ukrainischen Freunden aus Sicherheitsgründen angesagt. Was für ein Erstligastadion! 1.500 Plätze vielleicht, und nicht mal ausverkauft – dafür aber viele Zaungäste. Pavel nimmt uns mit zu seinen 50 jugendlichen und meist maskierten „Antifa-Hooligans“, wie sie sich selber nennen. Wir verteilen Ini-Aufkleber, die sofort mit einem erfreuten „Ah, Antifaschista“ zur Kenntnis genommen werden – sonst wären wir hier bestimmt nicht gerne gesehen.

Wir erfahren, dass die Obolon-Hools den Bus, mit dem die Gruppe nach dem brutalen Überfall am 15. August sicherheitshalber angereist ist, angegriffen haben. Scheiben kaputt, und erst hier gibt es eine hohe Präsenz von Polizei und Miliz.

Wegen des Angriffs füllt sich der Obolon-Hool-Block auch erst mit 15-minütiger Verspätung. Die Arsenal-Kids geben Gas. Aber die Hoffnung für den ukrainischen Fußball scheinen die gewiss auch nicht zu sein. Unterstützt wird Arsenal auch von der Miliz, die direkt neben den Obolon-Hools sitzt. Wie wir später erfahren, wurden sie dazu von ihrem Chef angehalten, denn Arsenal war früher ZSKA, also ein Militärclub. Hier gibt’s offensichtlich nix, das seltsam genug wäre, um uns noch zu erstaunen. Arsenal gewinnt 1:0, nach dem Spiel lässt die Miliz uns bald durch und wir steigen wieder in ein Taxi.

Am letzten Tag gehen wir runter zum Djneper und finden einen herrlichen Strandpavillon auf Stelen. Wir fläzen uns in die Polster, trinken und essen, plaudern. Welch eine Ruhe, welch ein wunderbarer Blick auf den Fluss und die Hügel! Hier kommt es auch endlich zur Gründung des „Ukrainisch-Deutschen Fan-Club Dawai Kroschka Schalke 04“. Eugen wird 1. Vorsitzender, Igor sein Stellvertreter. Unser Motto: „Strandverbote halten uns nicht auf!“ Das können wir keinem Ultra erzählen… Wir unterhalten uns viel über unsere reichlichen Eindrücke, denn wir sind uns einig: Es ist für den Einzelnen ganz schwer, diese Eindrücke richtig einzuordnen. Jeder hier verbreitet irgendwie immer nur seine eigene Wahrheit.

Was ist zum Beispiel mit Arsenal? Ist das nun der einzige Klub des Landes, der sich gegen Rechts wendet? Also eigentlich „unser“ Klub. Oder doch nur ein Plastikverein ohne Fans, der einem Waffenhändler gehört und seine Heimspiele mangels eigenen Stadions auch schon mal in irgendwelchen anderen Städten austrägt?

Was ist mit Obolon? Ist das der kleine sympathische Vorortklub, der Underdog, den man unbedingt gut finden muss? Oder stören die 100 Fascho-Hools diesen Eindruck nicht nachhaltig? Und wie kann diese neu gegründete Nation ein demokratisches Gesellschaftsverständnis entwickeln, wenn alles bitte der Staat regeln soll, der aber über alle Maßen korrupt ist und dem seine Bürger so sehr vertrauen wie einer geklonten Barschelarmee? Hier der engagierte junge Englischlehrer, der mit einem Gehalt durchkommen muss, für das man hierzulande keine Spielekonsole bekommt. Dort die fetten Hummer und protzigen blassrosa Damenmercedese mit Goldlenkrad.

Dieses Land ist spannend, lässt einen aber auch immer wieder ratlos zurück. Doch es gibt auch die Hoffnungsschimmer: Eugen, Igor, Olga & Co. – Menschen, die verstanden haben, was falsch läuft und die zu Protagonisten einer Entwicklung hin zu einer freiheitlich-demokratischen und zivilcouragierten Gesellschaft werden können. Noch sind sie wenige, aber es gibt sie. Wer zur EM in die Ukraine fahren möchte, muss sich wahrscheinlich keine großen Sorgen machen. Es werden „saubere“ Spiele werden. Insbesondere die Staatsmacht wird „Westler“ nicht anrühren. Man sollte aber auch nicht allein mit einem Anti-Nazi-T-Shirt durch die Vororte marschieren. Und wer behindert ist, sollte besser ganz zu Hause bleiben, denn einen barrierefreien Anfahrtsweg zu den Stadien wird es mutmaßlich nicht geben. Weder die U-Bahn mit unfassbar langen Rolltreppen, auf denen man minutenlang unterwegs ist, noch die Taxen sind auf Behinderte ausgerichtet. Ansonsten sei ein Besuch der Ukraine dringend empfohlen, denn hier gibt’s viel zu entdecken und jede Menge tolle Menschen.

Im nächsten Jahr wollen wir wiederkommen. Dann aber mit einem eigenen Team. Jeder Schalker, der mitkommen möchte, ist bereits jetzt herzlich eingeladen. Meldet euch einfach unter post@fan-ini.de oder im Fan-Laden an der Kurt-Schumacher-Straße.