Der Schrei

Cover SCHALKE UNSER 4
SCHALKE UNSER 4

von Tom Mega

Der Schrei ist eines der letzten Dinge, das uns noch an unseren großen Bruder, das Tier, erinnert. Ihr solltet es mal versuchen: Hockt euch breitbeinig auf einen Stuhl, entspannt den Kehlkopf und lasst, je nach Stimmngslage, einen Brunst-, Schmerz- oder Freudenschrei aus der Kehle röhren.

Ihr werdet feststellen, daß entweder der Oberkörper sich leicht nach vorne beugt oder daß er sich reckt, wobei der gestreckte Hals den Kopf nach hinten wirft. Meist folgen auch die Arme dieser Bewegung, pressen und lamentieren im Himmel herum. Was schließen wir daraus? Der Schrei ist im Stehen zu Hausen, er verkommt im Sitzen, verkümmert zu einem therapeutischen Hilfsmittel, einem Theaterschrei. Geht es so weiter, wird ihn ein ähnliches Schicksal ereilen, wie den Trizeps des menschlichen Muskelapparates. Nutzlos und unbeansprucht fristet er sein Schattendasein am oberen Hinterarm.

Ganz anders dagegen der Schrei im Stehen, ein Urtanz, ein Sichstrecken und -schütteln, das einen bis in die Schuhspitzen erfaßt. Und ist es dann auch noch ein kurz gebrülltes S04 aus tausenden von Kehlen, ist es fast wie eine Rückkehr, ein Sichverlieren im Tierischen, ein Verschwinden des Ichs in der Herde. Das darf aber nicht sein, ein Sichgeborgen fühlen in der Masse von Gleichdenkenden, pfui, was für ein kulturloses Gehabe. Schauen wir mal näher hin, was passiert denn da groß? Da ist doch kein Ismus dumpfes Wir, das in den Krieg hinauszieht, auch kein Sektensabbat, das ist Schmerz oder Freude und wenn überhaupt dann S04ismus. Nein, nein, das geht nicht, halten sie entgegen, der Mensch ist das Erhabene, er muß frei sein vom Animalischen, Herr seiner Triebe.

Aber was ist mit ihnen, die es fordern, wie halten sie es mit dem Hauen und Stechen? Die Sportnachrichten verkommen zu Wirtschaftsnachrichten in denen sich die Graugekleideten zungenfertig in Szene setzen. Ein lustiges Sichübervorteilen und Übereinanderherfallen, Front gemacht gegen die Masse in den Kurven, den Sitzplatz durchgedrückt, die Sitze mikrophoniert, den leise vor sich hingesäuselten Schrei über die Stadionanlage geschickt und schon geht es weiter mit der Mehrwertsplanung.

So kann man das nicht hinnehmen, was soll aus uns werden, sollen wir zu stimmlosen Fleischklöpsen verkommen, die in ihren Sitzen herumhängen und ab und an vom Wind der Erinnerung durchweht werden? Nein, nein, so geht das. Dranbleiben, sage ich, bevor es verschwindet, das sauber geröhrte S04 im stehenden Wippen, der Körper leicht vornüber und die Arme gen Himmel.