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SCHALKE UNSER schildert in aufwühlenden Tatsachenberichten die Entdeckung der Leidenschaft. Mitmenschen brechen das Schweigen. Diesmal berichtet Sascha von Euphorie und Ekstase, von Agonie und Apathie. Er ist hörig – dem S04. Eine Serie voller Schicksale. Mitten aus dem Leben.

Cover SCHALKE UNSER 37
SCHALKE UNSER 37

(sr) Zum Menschlich, Allzumenschlichen gehört auch die Tatsache des Vergessens. „Auf Schalke“-Gehen war nicht immer das, was es heute ist: In der wind- und wettergeschützten Arena eine Mannschaft sehen, die, meistens jedenfalls, jeden sich vor der atemberaubenden Kulisse zu Tode verängstigten Gegner schwindlig spielt und mit einer klaren Niederlage nach Hause schickt. Noch vor nicht all zu langer Zeit war „Auf Schalke“-Gehen eine Art Bekenntnis zum Masochismus. Die größtmögliche Form dieser Selbstpeinigung stellte das Bekenntnis zu Blau-Weiß sicher in der Spielzeit 1988/89 dar. Damals hatte Schalke seinen dritten Abstieg in die zweite Liga hinter sich, und Mannschaften wie der SV Meppen, die SpVgg Bayreuth oder Victoria Aschaffenburg stellten unser Team vor große Schwierigkeiten. Auch meine persönliche Bilanz als Besucher von Heimspielen erlitt damals ihren ersten Kratzer. In der ersten Liga war Schalke, wenn ich dabei war, unbesiegt geblieben; bei meinem ersten Besuch in Liga Zwei gab es ein erbärmliches 0:2 gegen den VfL Osnabrück.

Nichtsdestotrotz entschloss ich mich, zum ersten Mal einem Auswärtsspiel beizuwohnen. Es war ein trüber Herbstabend, als mich mein Vater am 29.10.1988 mit dem Auto zur Wattenscheider Lohrheide fuhr. Ich hatte mich dort mit einem Schulkameraden verabredet, den ich in den Menschenmassen leider nicht finden konnte: Das Stadion war, wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte von Wattenscheid 09, ausverkauft. Das Betreten des Stadions kam einem Kulturschock gleich. Die weitläufigen Wege vom Parkstadion mit seinen damals knapp 70 000 Plätzen gewohnt, erschrak ich, als ich mich, kaum dass ich die Kassenhäuschen hinter mich gelassen hatte, bereits mitten im Stadion befand, dessen Größe eher an eine Bezirkssportanlage als an ein Stadion erinnerte, in dem Profifußball geboten wurde.

Die Ausgangslage vor dem Spiel: Schalke hatte einen Fehlstart hingelegt und spielte die ganze Saison über gegen den Abstieg, während Wattenscheid zur Spitzengruppe gehörte und um den Aufstieg spielte. Das Spiel verfolgte ich von der Gegentribüne aus. Beide Teams spielten ängstlich; Schalke fürchtete wohl um die nächste Niederlage und Wattenscheid war eine solche Kulisse nicht gewohnt. In den gesamten 90 Minuten erspielte sich keine der beiden Mannschaften eine Torchance, es war ein grottenschlechter Kick, eben typisch Schalke – zumindest an den 80er Jahren gemessen. Interessanter war da schon das Drumherum, die Fans, die Schalke trotz der größten sportlichen Krise der Vereinsgeschichte unermüdlich unterstützten. Einige überspannten dabei allerdings den Bogen und nahmen auf der mir gegenüberliegenden Seite eine Würstchenbude komplett auseinander, die sich direkt hinter den Zuschauerrängen befand. Der herbstlich-trübe Abend hatte sich bereits in ein pechschwarze Nacht verwandelt, die Kälte setzte den frierenden Zuschauern ob des langweiligen Spiels immer mehr zu, es roch nach Glühwein und Zigarettenqualm, als plötzlich ein Wunder geschah.

Ich weiß nicht mehr, ob es eine Ecke, ein Freistoß oder eine Hereingabe aus dem Spiel heraus war, der Ball beschrieb jedenfalls eine gleichmäßige Kurve bis etwa Höhe Elfmeterpunkt im Wattenscheider Strafraum, Carsten Marquardt setzte zum Fallrückzieher an, traf den Ball perfekt und mit der einzigen Chance, die eine der beiden Mannschaften hatte, ging Schalke mit 1:0 in Führung. Nur wenig später pfiff der Schiedsrichter ab. Jubelnd verließen die meisten Menschen die Lohrheide. Ein schöner Abend. Typisch Schalke!