„Ich hätte mich zu Tode geschämt“

Über die Details der Enthüllungen auf den Tonbändern werden wir später noch viel mehr erfahren, jedoch wollen wir versuchen, die Ereignisse chronologisch und mit Blick durch die blau-weiße Brille aufzuarbeiten. Zwar wurde auf Canellas‘ Geburtstags-Party noch nicht über Schalke gesprochen, doch auch hier im Westen war man sich schon lange nicht mehr sicher, ob bei den Königsblauen alles korrekt ablief. Ganz besonders nicht beim Heimspiel am 17. April 1971 gegen Arminia Bielefeld. Schalke spielte so schlecht – schlechter geht’s nicht. „Der Sportbeobachter“ (eine Art „RevierSport“ der 60er und 70er Jahre) urteilte, dass Schalke seit dem Abstiegsjahr 1965 (nur die Aufstockung der Bundesliga auf 18 Vereine rettete Schalke damals) nicht mehr so mies gespielt hätte.

Ernst Kuzorra, der trotz seiner 65 Lenze sonst immer noch wie ein jugendlicher Haudegen wirkte, war plötzlich alt geworden. Wortlos starrte er nach dem Spiel im Kasino auf sein Bier. Zeitweise sah es so aus, als kämpfte er mit den Tränen. Dann schüttelte er den Kopf, und es brach aus ihm heraus: „Schämen sollten sie sich! Schämen! Ich hätte mich als Fußballer zu Tode geschämt!“

In Ostwestfalen bejubelte man natürlich den Sieg über den großen Favoriten. In Gelsenkirchen jedoch gab es nur Hohn und Spott für eine Mannschaft, in der die Hälfte der Spieler unter Normalform über den Rasen tänzelte. Und ganz klar, in Offenbach wurde von einem verschaukelten Spiel gesprochen. In der Tat konnte man den Zweifeln der Offenbacher beim Anblick dieses Spiels nur beipflichten. Einer der wenigen fleißigen Schalker an diesem Spieltag war Herbert „Aki“ Lütkebohmert, der mit Schüssen aus der zweiten Reihe in der ersten Halbzeit nur Pfosten und Latte traf.

Doch je länger es 0:0 hieß, um so mehr taten sich gewaltige Lücken in der Schalker Abwehr auf. Klaus Fichtel musste zur Halbzeit mit einer Muskelzerrung ausgewechselt werden, Wittkamp spielte daraufhin den Ausputzer genauso schwach, wie er vorher im Sturm war. Seit Schalke Wittkamp zu verstehen gegeben hatte, dass man nicht bereit sei, seine Abwanderungsdrohungen durch dunkelbraune Geldscheine aus der Welt zu schaffen, war mit dem ehemaligen Schalker Torjäger einfach gar nichts mehr los. Im Tor hielt Dieter Burdenski, was er konnte; er vertrat den an einer Meniskusverletzung laborierenden Norbert Nigbur. In der 82. Minute aber schoss der Bielefelder Gerd Roggensack eine Fußabwehr des unter Dauerbeschuss stehenden Burdenski ins Tor, ohne dass Galbierz rechtzeitig eingriff. „Nu sag bloß, die hätten kein Moos gekriegt, wo se so tofte verloren ham“, war der Ausspruch eines Tribünenbesuchers, der vorzeitig das Stadion verließ. „Aufhören! Schiebung! Aufhören!“, reagierte ein Großteil des Publikums und Schalke-Anhangs schon lange vor dem Schlusspfiff und wähnte Verrat oder westfälische Nachbarschaftshilfe Schalkes für die Arminia.

1.000 Mark Strafe

„Es ist einfach nicht zu glauben. Es ist nicht zu glauben!“ Mit diesen Worten wandte sich Schalkes Vorsitzender Günter Siebert nach dem Spiel mit Grausen ab. Trainer Slobodan Cendic, der zwar schon gekündigt worden war, aber zwecks mangelnder Alternativen immer noch amtierte, wurde deutlicher: „Ich schäme mich vor dem Publikum. Jawohl, ich schäme mich. Aber die Spieler, die sich eigentlich schämen müssten, schämen sich nicht. Ich werde dem Vorstand vorschlagen, jeden Spieler, der nicht richtig gespielt hat, mit 1.000 Mark Strafe zu belegen. Die Mannschaft hat Lust, Form und Laune verloren, seit ihr der Vorstand meine vorsorgliche Kündigung mitgeteilt hat.“

Und weiter im „Sportbeobachter“: „Und sonst haben Sie nichts zu bieten, meine Herren in Königsblau? Dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn die restlichen Heimspiele vor leeren Rängen stattfinden. Denn eine derartige Gurkerei wie gegen Arminia können Sie einem so sachverständigen und fußballverwöhnten Publikum wie in Schalke nicht verkaufen.“

In der Tat waren knapp 14.000 Zuschauer in der Glückauf-Kampfbahn ein alarmierendes Zeichen, und mit einem solchen Anti-Fußball gewann man bestimmt keine neuen hinzu. Auch die sonstige Presse sprach bereits von Schiebung, doch man wiegelte ab. Norbert Nigbur: „Profis verzichten doch nicht freiwillig auf eine Siegesprämie von 1.000 Mark. Das Geschwätz von einem verkauften Spiel ist Unsinn.“

Krisensitzung

In den nächsten Tagen trommelte Günter Siebert die Spieler zu einer Krisensitzung zusammen und bläute ihnen das Ziel ein: „Erreichen des Pokal-Endspiels mit einem Sieg im Halbfinale gegen den 1. FC Köln und einen Platz in der Spitzengruppe der Bundesliga, Platz 2 bis 5, der die Teilnahme am neuen UEFA-Pokal garantiert.“ Die Spieler nickten beifällig. Dabei war nicht festzustellen, ob auch Wittkamp, Senger, Wüst, Pirkner, Galbierz und Burdenski eine Stirnverbeugung machten. Denn sie gehörten zu denen, die sich verändern wollten und einen neuen Verein suchten. Wittkamp hatte unmittelbar vor der Sitzung gekündigt, sein Weg führte in der nächsten Saison nach Mönchengladbach. Galbierz hatte beim Wuppertaler SV angeheuert, Pirkner zog es ins Ausland und Burdenski sollte ausgerechnet zu Arminia Bielefeld wechseln.

Die Abgänge mussten kompensiert werden. Neben zahlreichen namenlosen, aber hoffnungsvollen Talenten wie Huhse, Hessling und Holz hatte Siebert noch zwei ganz heiße Eisen im Feuer. Die Verhandlungen mit den Zwillingen Erwin und Helmut Kremers von den Offenbacher Kickers liefen auf Hochtouren.

Es geht abwärts

Doch erst musste man unter schwierigen Umständen nach Kaiserslautern fahren. Wegen großer Verletzungssorgen bestand das Aufgebot von Schalke 04, das am 27. April von der Glückauf-Kampfbahn mit dem Omnibus im überraschenden Schneegestöber in Richtung Süden startete, nur aus 17 Spielern. Doch die wehrten sich tapfer auf dem Betzenberg, bewiesen ohne Zweifel guten Willen, sich nach der Blamage gegen Bielefeld zu rehabilitieren. Aber es blieb nur beim Willen, der nicht zum Zünden kam, weil es im Sturm nur Platzpatronen gab. Schalke verlor am Ende etwas unglücklich mit 2:0 (den zweiten Treffer erzielte übrigens Otto Rehagel mit einem umstrittenen Foulelfmeter) und war nun Fünfter in der Tabelle. Und Schalke verlor weiter. Zwar hieß der Gegner in der Glückauf-Kampfbahn Bayern München, Tabellenzweiter der Liga, doch so schwach hatte man die Bayern lange nicht gesehen. Aber Schalke war noch schlechter. Nach dem 1:0-Führungstreffer durch Klaus Fischer lieferte Schalke ein Dornröschenspiel und schlief vollends ein. Nigbur agierte in der Manier eines nervösen Anfängers, hatte seinen „Tag der offenen Tür“ und ließ drei „Dinger“ rein.

Nach dem Bayern-Spiel war von einer etwaigen Schiebung bei der Begegnung gegen Bielefeld keine Rede mehr. Alle dachten: „Die haben damals nicht absichtlich so mies gespielt, die sind wirklich so schlecht!“ Jeder fragte sich, wie es sein konnte, dass Schalke innerhalb von fünf Spieltagen vom möglichen Meisterschaftsanwärter zum willigen Punktelieferanten der Liga werden konnte. Immer mehr musste man zu der Überzeugung kommen, dass dem Fußball die Zeit des Transfers vom 1. Mai bis zum 30. Juni nicht gut tat. Ausgerechnet in der entscheidenden Phase der Meisterschaft wurden den Spielern mit Angeboten und Geld der Kopf verdreht.

Die Kraft fehlt

Das Pokal-Halbfinale gegen den 1. FC Köln stand an. Günter Siebert hatte trotz der zuletzt miserablen Leistungen die Eintrittspreise angehoben. Doch nachher standen sie wieder mal mit leeren Händen da, Köln gewann mit 3:2. Schalke schien ausgelaugt, saft- und kraftlos. Aber das hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Statt alle Kraft auf den fünften Platz zu konzentrieren, wurden immer noch Freundschaftsspiele zwischen den Ligaspielen eingeschoben. Diese Spiele auf den Dörfern brachten gerade mal die Spesen ein – Abendessen und ein Pils – aber zehrten an der Substanz, weil kein zweiter Anzug vorhanden war. So konnte die sportliche Krise nicht behoben werden. Im Gegenteil: In Oberhausen verlor man am nächsten Spieltag mit 4:1, die erste Schalker Niederlage im Niederrheinstadion seit zwölf Jahren. Gegen Kickers Offenbach gab es die nächste Heimpleite, 1:2 hieß es zum Abpfiff. Eine Beendigung des Abwärtstrends war nur durch das Ende der Saison abzusehen. Unterdessen konnte Günter Siebert einen Nachfolger von Slobodan Cendic präsentieren: Der neue Mann hieß Ivica Horvat, ehemaliger Trainer von Croatia Zagreb, der einen fantastischen internationalen Ruf genoss. Doch er sollte erst zur nächsten Saison auf der Trainerbank Platz nehmen, Cendic sollte die Saison noch über die Bühne bringen.

Am nächsten Spieltag kam es in der Glückauf-Kampfbahn zu einem brisanten Duell, Schalke traf auf den 1. FC Köln. Zum einen wollte Schalke die Heimpleite im DFB-Pokal-Halbfinale wett machen, zum anderen waren es unter anderem diese beiden Vereine, denen vor allem aus süddeutscher Sicht vorgeworfen wurde, den Ausgang einiger Spiele manipuliert zu haben: Schalke – Bielefeld 0:1, Schalke gegen Kickers Offenbach 1:2 (Freigabe der Kremers-Zwillinge erleichtert?) und 1. FC Köln – RW Oberhausen 2:4. In einem schwachen Spiel lag Schalke mit zwei Toren zurück, doch ganze fünf Minuten spielten die Schalker den Fußball vergangener Tage und glichen durch Tore von Libuda und Rüssmann kurz vor Abpfiff noch aus.

Das war bestimmt alles keine Augenweide, aber eine gewisse Rehabilitierung für die letzten Niederlagen und widerlegte eigentlich alle, die offen oder versteckt in den letzten Wochen beiden Mannschaften Schiebung oder Manipulation nachgesagt hatten.

Showdown

Plötzlich schien es auch dem FC Schalke 04 zu dämmern, dass der Tabellenfünfte noch an der UEFA-Runde teilnehmen konnte. Für einen Sieg im letzten Spiel der Saison in Bremen sollte es Sonderprämien geben. Die Meisterschaft war immer noch nicht entschieden, Bayern lag knapp hinter Gladbach und im Abstiegskampf grassierte wahre Existenzangst. Der Samstag war nichts für infarktgefährdete Mitmenschen. Zehntausende strömten zu den Bundesligabühnen, Millionen jammerten oder jubelten vor dem Radio.

Um 17.12 Uhr Rundfunkzeit war schließlich die Luft raus, die Spannung weg, die Entscheidung gefallen. Hennes Weisweiler, Günther Netzer und Berti Vogts konnten mit Borussia Mönchengladbach die Deutsche Meisterschaft feiern. Schalke gewann zwar in Bremen glücklich mit 1:0, hatte aber trotzdem einen Punkt Rückstand auf den Fünften Hamburger SV und war somit Zuschauer beim UEFA-Cup. Ein Stockwerk tiefer ging es für Oberhausen, Rot-Weiß Essen und Kickers Offenbach. Günter Siebert, mit einem neuen schnittigen Mercedes-Sportwagen und der dazu passenden blau-weißen Sportmütze ausgestattet, stellte fest: „Schade, dass wir trotz des Sieges den fünften Platz nicht erreichen konnten. Die Kohlen dafür hätten wir schon viel früher in den Keller bringen müssen. Mit dem sechsten Platz holten wir aber mit einer sehr jungen Mannschaft immerhin die beste Position seit Bestehen der Bundesliga.“