Mein einsamstes Derby

(ru) Das letzte Derby wird vielen aufgrund der Heldentaten von Manuel Neuer im Gedächtnis bleiben. Ich werde es als mein einsamstes Derby in Erinnerung behalten, nachts um halb zwei alleine vor dem PC. 

Es war so in der Saison 1997/98, ein Freitagabend, Heimspiel gegen Bochum. Für diesen Abend war eigentlich irgendein Treffen mit Freunden verabredet, doch ich sagte ab. Genau kann ich mich nicht erinnern, was bei dem Treffen geplant war. Ich erinnere mich aber an die Sätze meines Kumpels, nachdem ich gesagt hatte, dass ich lieber nach Schalke fahren wolle. „Kannst du das Spiel nicht aufnehmen und später schauen?“, fragte er. Mir sind diese Worte noch so im Gedächtnis, weil ich sie derart abstrus und abwegig fand. Ein Spiel aufnehmen und dann alleine zu Hause anschauen? Wie kommt man auf so einen Gedanken?

Cover SCHALKE UNSER 70
SCHALKE UNSER 70

Die Leute begriffen wohl nicht, dass es nicht nur um das Spiel auf dem Rasen ging. Es ist das Wichtigste, klar, das sagen wir Fans doch immer. Und doch habe ich mittlerweile für mich herausgefunden, dass es um mehr geht. Das allein ist nicht der Grund, ins Stadion zu gehen. 97/98 – da war noch dieser Block 5, dieser harte Kern der Nordkurve, der so unberechenbar und energiegeladen war. Stell dir vor, du verpasst ein Spiel und kennst beim nächsten Mal einen neuen Gesang nicht. Oder alle erzählen von Bierduschen für die Ersatzspieler des Gegners und du bist nicht dabei gewesen. Die bitterste Niederlage oder ein hoher Heimsieg mit einem Jiri-Nemec- Hattrick – egal, Hauptsache, man war dabei. Aber das Ganze auf Video aufnehmen? Das ist so wie bei den Leuten, die sagen: „Ich gehe nicht auf Festivals, ich warte einfach, bis sie die Konzerte im Fernsehen zeigen.“

So dachte ich bis zu den Wochen vor dem Derby. Es sollte das erste Derby meines Lebens werden, das ich verpasste. Kein Stadion, kein In-der-Kneipe-Gucken, kein WDR2. Ich nahm das Spiel zwar nicht auf, aber ich zog mir tatsächlich eine Aufzeichnung rein. Nachts um ein Uhr. Alles hatte ich im Vorfeld getan, um an diesem Abend frei zu bekommen, den Antrag direkt nach der Bekanntgabe des Derby-Termins abgegeben. Da machten mir sämtliche Kollegen aufgrund von Dienstreisen, früher eingereichten Urlauben, Schwangerschaft oder Krankheit einen Strich durch die Derby-Rechnung: Ich hatte an diesem Abend unumstößlich Spätdienst. Der absolute Hit war eine Kollegin, die nicht tauschen wollte, da ja am nächsten Tag das Derby anstehen würde. Ich wendete ein, das Derby sei am Freitag. Doch da wurde mir noch einmal eindeutig vor Augen geführt, dass ich nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern in Berlin lebe. Sie redete tatsächlich von Hertha gegen Union, diese Zweitliga-Stadtmeisterschaft. Ich meinte aber die „Mutter aller Spiele“. Mein Chef verstand das auch nicht so recht.

Wie konnte ich auch erwarten, dass irgendwer in Berlin es verstehen würde? Man muss im Pott leben, um zu wissen, worum es im Derby geht. In Berlin reden sie in Köpenick und Charlottenburg von Union und Hertha, in anderen Stadtteilen wie Prenzlauer Berg aber bleiben Kita-Plätze, in Friedrichshain Hausbesetzungen Gesprächsthema Nummer eins. Doch im Pott steht vor dem Derby die Welt still, es gibt wohl keine Currywurstbude, keine Kneipe und keine Autowaschanlage, wo nicht über Schwarz-Gelb gegen Königsblau gesprochen wird.

Ich hatte alle Derbys gesehen, seit ich acht Jahre alt war. Ich sah Mulders Kopfball gegen Klos, Ebbe Sands Sternstunde in der letzten Minute, aber auch das bittere 0:2, als ein gewisser Metzelder so aufdrehte und wir die Meisterschaft verloren. Was würde ich nun tun? Mir war schnell klar: Das Ergebnis per Ticker oder SMS mitbekommen, das geht nicht. Das ist Derby, da reicht das nicht.

Ich hatte schon Wahnvorstellungen, sah in meinen Träumen, wie in der 89. Minute Peer Kluginho drei Lüdenscheider schwindelig spielt und dann den Pass auf Julian Draxler gibt. Draxler nimmt den Ball hoch, lässt ihn auf die Brust auftitschen und vollstreckt mit einem unglaublichen Fallrückzieher, der aber nur an die Latte klatscht, von da aus an den Kopf von Kevin Großkreutz, der den Ball unhaltbar ins eigene Tor lenkt. Ich stellte mir vor, dass meine Kumpels mich anrufen und ins Telefon schreien: „Wie kann man das nur verpasst haben?“

Dann fasste ich einen Entschluss, ich würde mich Freitagabend bis zum Feierabend abschotten, nichts, aber auch gar nichts von diesem Spiel mitbekommen und mir dann eine Aufzeichnung auf s04-tv reinziehen. Es war die einzige Chance, wenigstens etwas von der Derby-Stimmung zu erleben. Ich musste zum Marty McFly werden: „Zurück in die Zukunft“. Doc, schmeißen Sie den DeLorean an, wir müssen zurück zur Uhrzeit 20:30 Uhr.

Tatsächlich schaffte ich es, am Abend nichts vom Spiel mitzubekommen. Alle übrigen Kollegen hielten dicht und ich schaltete mein Handy aus. Doch die Hinweise lauerten überall.

Als ich mich um ein Uhr nach Hause aufmachte, fragte mich jemand, ob ich noch in eine Kneipe mitkommen würde. Ich erklärte, doch jetzt das Spiel zu schauen. Er fragte: „Bist du dir sicher?“ Ich rannte raus. Was sollte das heißen? „Bist du dir sicher?“ In der Bahn machte ich kurz mein Handy an – fünf Nachrichten. Das konnte alles bedeuten. Meine Freunde, die der schwarz-gelben Seuche verfallen waren, könnten Häme ausschütten. Oder meine blau-weißen Kumpels meldeten sich vom Auswärtssieg. Ich steckte das Handy weg.

Um 01:22 Uhr startete ich in mein einsamstes Derby. Was soll ich sagen? Meine Nachbarn werden sich gefragt haben, was für ein Kranker nachts solche Flüche ausstoßen kann. Ich litt so wie alle Schalker an diesem Tag, vergötterte Manu, fluchte über Lukas Schmitz, sehnte den Abpfiff herbei. Ich schämte mich in der ersten Halbzeit, wann waren wir in einem Derby zuletzt so vorgeführt worden? Doch das alles hatte etwas Unwirkliches, ich war dabei und doch nicht.

Meine Kumpels erzählten mir später von den skandalösen Polizeischikanen, wie sie sich wieder über den Lüdenscheider Stadionsprecher kaputt lachen konnten und von der Stimmung auf den Rängen. Es soll mir keiner erzählen, dass man doch heutzutage gar nicht mehr ins Stadion zu gehen braucht. Bis ich mir Fußballspiele oder Konzerte nur noch im TV anschauen werde, wird noch viel Wasser die Emscher runter fließen. So viel steht fest.