„Es kommt immer anders, als man denkt“

(axt) Es gibt wohl nur wenige Angestellte, die offen mit ihrem Arbeitgeber darüber sprechen dürfen, dass sie schon ein Stadionverbot hatten. Einer kann es: Thomas Kirschner, der zusammen mit Daniel Koslowski das Amt des Fanbeauftragten auf Schalke ab Sommer übernehmen wird, sich aber schon einarbeitet. SCHALKE UNSER sprach mit dem ehemaligen Vorsitzenden der Ultras Gelsenkirchen über Nacktzelte, Polizeieinsätze und das, was einmal ein Hobby war.

SCHALKE UNSER:

Die ersten 100 Tage sind ’rum – wie ist die erste Bilanz?

THOMAS KIRSCHNER:

Es ist ein Einblick, den ich bisher nicht hatte, und ein neues Aufgabengebiet. Ich habe sicher noch nicht alles kennengelernt und es wird auch noch andere Momente geben, aber momentan bin ich damit vollkommen zufrieden.

SCHALKE UNSER:

Wie ist der Verein auf dich gekommen?

THOMAS KIRSCHNER:

Ich habe vorher schon eineinhalb Jahre beim Verein im Bereich Vereinsarchiv / Museum gearbeitet und hatte darum auch gewisse Berührungspunkte zu meinem Vorgänger Patrick, den Entscheidungsträgern und Volker Fürderer. Da ich relativ bekannt in der Fanszene bin, ist der Verein wohl auf mich gekommen. Und: Ein Fanbeauftragter muss beim Verein angestellt sein. Da lag es sicher nahe, mich zu fragen, weil ich das schon war.

SCHALKE UNSER:

Das letzte Mal, dass wir dich interviewt haben, war das als Vorsitzender der UGE. Hat das vielleicht eine Rolle gespielt?

THOMAS KIRSCHNER:

Da ich bei UGE war, kannte man sich bereits aus Gesprächen. Ich glaube aber nicht, dass das unbedingt eine Rolle gespielt hat. Bei UGE bin ich 2012 ausgetreten – aber nicht, um beim Verein anzufangen. Ich war wohl einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wenn Patrick nicht aufgehört hätte, säße ich jetzt auch nicht hier. Und wenn du mich Anfang Januar gefragt hättest, ob wir hier im April sitzen und über mich als Fanbeauftragter sprechen, hätte ich gesagt: „Ist nicht so geplant.“ Aber es kommt immer anders, als man denkt.

SCHALKE UNSER:

Es ist aber ein gewisser Rollenwechsel.

THOMAS KIRSCHNER:

Ja, definitiv. Sonst hatte man am Wochenende Schalke als Hobby und als Abwechslung vom Alltag, und jetzt ist ein Spieltag Arbeitstag. Man hat eine andere Aufgabe, ist gewissen Zwängen untergeordnet – ohne dass „Zwänge“ jetzt negativ zu verstehen sind: Du stehst nicht mehr im Block, du singst nicht mehr. Man ist jetzt der Ansprechpartner auch während der 90 Minuten. Für jeden, der aus der Fanszene kommt, ist das eine Umstellung. Dass man sich vorher mit Freunden in der Kneipe trifft, entfällt jetzt. Von daher ist es ein Rollenwechsel, aber kein Seitenwechsel: Ich finde, Verein und Fans stellen keine zwei verschiedenen Seiten dar, auch wenn es in gewissen Punkten sicher auch unterschiedliche Ansichten gibt.

SCHALKE UNSER:

Naja, jetzt bist du auch beratend für Stadionverbote zuständig. Da bringst du auch eigene Erfahrungen mit.

THOMAS KIRSCHNER:

Ganz richtig, „beratend“. Bei Stadionverboten gibt es schon länger das Gremium, das Anhörungen durchführt und damit Betroffenen die Möglichkeit bietet, sich zu äußern. Ich denke, dass es in den letzten Jahren eine relative gute Entwicklung auf Schalke gibt. Wäre schön, wenn das bei allen Vereinen so wäre und man dort versuchen könnte, diese Verfahren fairer zu gestalten.

Ich habe jetzt die ersten beiden Anhörungstermine hinter mir und muss sagen, es ist ungewohnt. Als ich Stadionverbote erhielt, gab es diese Anhörungen nicht. Ich als Fanbeauftragter sowie die Vertreter des SFCV und des Fanprojekts lassen unsere Erfahrungen einfließen und geben unseren Ausblick und eine Einschätzung ab. Die Entscheidung liegt letztlich beim Stadionverbotsbeauftragen.

SCHALKE UNSER:

Wofür hattest du deine Stadionverbote bekommen?

THOMAS KIRSCHNER:

Ich hatte Stadionverbot wegen eines Verfahrens wegen vermeintlicher Körperverletzung in Kaiserslautern, das aber dann vor Gericht eingestellt worden ist, und eines aus Dortmund bei einem Derby, als es Unstimmigkeiten mit dem Ordnungsdienst gab. Das ist kein Geheimnis; der Verein weiß ja auch, wen er eingestellt hat.

SCHALKE UNSER:

Wie stehst du heute zum Instrument Stadionverbote?

THOMAS KIRSCHNER:

Meine Meinung hat sich durch den neuen Job nicht geändert, weil mir bewusst ist, dass es das Instrument gibt und ich das nicht ändern kann. Ich kann nur meinen Beitrag leisten das Verfahren möglichst fair und transparent zu gestalten, z.B. Neuerungen wie Bewährungssysteme anzuregen. Durch meine eigenen Erfahrungen weiß ich, dass Stadionverbote durchaus kritisch zu sehen sind, weil der rechtliche Bezug zu einer Verurteilung fehlt, sie bisweilen „pro forma“ ausgestellt werden, obwohl rechtlich letztlich nichts nachkommt. Ich kann den Unmut gut nachvollziehen.

SCHALKE UNSER:

Du hast aber die UGE damals nicht ganz im Frieden verlassen. Wie ist dein Verhältnis zu ihnen heute?

THOMAS KIRSCHNER:

„Nicht im Frieden“ ist vielleicht der falsche Ausdruck. Wenn man irgendwo austritt, ist klar, dass nicht alles in Ordnung ist, sonst wäre man dabei geblieben. Es gab da aber nicht den einen speziellen Grund, sondern mehrere kleine verschiedene. Ich denke, dass es bei UGE ein paar Leute gibt, die es relativ kritisch sehen, dass ich den Job mache oder dass ich überhaupt beim Verein gearbeitet habe, wobei es auch Leute geben wird, die sagen werden, dass besser ich das mache als jemand anders. Ich gehe da unvoreingenommen an die Sache. Wenn es Dinge gibt, die wir gemeinsam mit den UGE machen können, werden wir das tun.

SCHALKE UNSER:

Wie ist dein Verhältnis zu den anderen Organisationen?

THOMAS KIRSCHNER:

Mein Eindruck ist: relativ gut, aber da musst du die Leute dort fragen. Durch den neuen Job ist der eine oder andere auf mich zugekommen. Es ist eine große Verantwortung und ein schwieriger Job. Es wird sicher die eine oder andere Situation geben, in der ich zwischen den Stühlen sitzen werde. Als Fanbeauftragter bin ich eher in der Rolle des Vermittlers, in der ich natürlich auch die Wünsche der Fans beim Verein platzieren kann. Daniel und ich werden bestimmt auch mal mit Anliegen scheitern, weil wir nicht die Entscheider sind. Ich würde mir wünschen, dass die Leute bei der Rolle des Fanbeauftragten verstehen, was wir bewirken können, welche Aufgaben und welche Rolle wir haben.

Wir haben mit den Organisationen die ersten Gespräche geführt. Das geht einher mit der neuen Struktur des Bereichs „Mitglieder, Fanbelange und Sicherheit“, das auf mehreren Säulen beruht. Ich denke, dass sich das alles einspielen wird. Es ist alles noch sehr früh. Wenn wir in zwei Jahren hier sitzen und es zwischendurch auch Krisen gegeben hat, dann kann ich vielleicht etwas detaillierter Auskunft geben.

SCHALKE UNSER:

Was ist der Kern des neuen Konzepts?

THOMAS KIRSCHNER:

Es wurde die neue Abteilung „Mitglieder, Fanbelange und Sicherheit“ geschaffen, in der wir als Fanbeauftragte eine Säule darstellen. Der Traditionsbereich gehört dazu, Soziales mit „Schalke hilft!“, die Mitgliederabteilung, Ordnungsdienst und Sicherheit, so dass die verschiedenen Themen nebeneinander behandelt werden. Manch einer fragt sich, warum „Sicherheit“ und „Fans“ in einer Abteilung gebündelt werden, aber die Schnittstellen sind doch gegeben. Beispielsweise bei Choreografien, bei denen das Thema Sicherheit relevant ist. Gleiches gilt für den Bereich Tradition, wo wir als Fanbeauftragte mit Rat und Tat zur Seite stehen und Projekte begleiten. Auch bei Schalke hilft! ist die Verknüpfung zu den Fans gegeben.

SCHALKE UNSER:

Dein Vorgänger hat hingeschmissen, weil er nichts erreichen konnte. Du hast gerade schon gesagt, dass ein Fanbeauftragter nichts entscheidet- was kannst du denn erreichen?

THOMAS KIRSCHNER:

Zu Patricks Gründen für seinen Entschluss, den ich sehr bedauert habe, kann ich nichts sagen. Ich denke, dass man die Interessen der Fans einbringen und wieder regelmäßig in Kontakt mit dem Verein kommen kann. Das sind die ersten Punkte, die wir uns vorgenommen haben. Die Leute sollen wissen, worum sich die Abteilung Fanbelange kümmert, auch weil der SFCV nicht mehr dem Verein angegliedert ist.

SCHALKE UNSER:

Früher waren noch alle Fanorganisationen unter dem Dach des SFCV vertreten; Fan-Initiative, Supporters Club und UGE sehen den SFCV mittlerweile nicht mehr als ihren Vertreter und haben ihn verlassen. Macht das die Kommunikation schwierig?

THOMAS KIRSCHNER:

Für uns als Fanbeauftragte ist es nicht schwieriger, denn die entsprechenden Ansprechpartner waren immer bekannt. Wir überlegen gerade, welche Struktur wir dem Ganzen geben. Wir haben das Interesse bei den einzelnen Organisationen abgeklopft. Da müssen auch die Differenzen, die ja durchaus vorhanden sind, besprochen werden. Die Organisationen müssen nicht einer Meinung sein und auch die Meinung des Vereins nicht teilen. Aber ich denke, es gibt mehr Punkte, bei denen man einer Meinung ist und etwas erreichen kann, als Dinge, die kritisch gesehen werden. Ich habe nicht die Illusion, dass mit einem Fingerschnippsen alle wieder einig sind, nur weil ich jetzt den Job übernommen habe.

SCHALKE UNSER:

Der SFCV hat historisch gesehen eine Sonderrolle inne. So sitzt er beispielsweise im Aufsichtsrat, um die Faninteressen zu vertreten.

THOMAS KIRSCHNER:

Ich finde, dass ein Sitz für die Fans im Aufsichtsrat eine wichtige Sache war und ist, mit der wir in Deutschland Vorreiter waren. Rolf Rojek hat die Funktion viele Jahre gut ausgefüllt. Mit Heiner Tümmers haben wir nun jemanden, der im SFCV-Vorstand sitzt und aus dem Supporters Club kommt. Auch ihm sollte man die 100 Tage Einarbeitung zugestehen.

SCHALKE UNSER:

In einem ist Schalke auch auffällig: In seinem Faible für Vollkörperkontrollen, im Volksmund auch „Nacktzelte“ genannt. Wie siehst du diese Maßnahmen des Vereins, der auch dein Arbeitgeber ist?

THOMAS KIRSCHNER:

Da sind wir bei einem der Punkte, bei dem der Fanbeauftragte nur eine beratende Rolle hat. Ich weiß, dass Patrick immer wieder darauf hingewiesen hat, dass solche Maßnahmen nicht im Sinne der Fans sind. Sie werden auch nicht in meinem Sinne sein, wenn es noch einmal dazu kommen sollte. Das beruht aber immer auf Anregung der Polizei und die Entscheidung trifft der Sicherheitsbeauftragte. Ich werde eher davon abraten, weil ich mehr als genug Auswärtserfahrung habe und das Dinge sind, die ich auch nicht haben möchte, wenn ich irgendwohin fahre. Volker Fürderer hat ja auch neulich gesagt, dass er gerade aufgrund der Erfahrungen beim Spiel gegen den FC Basel sich für die Zukunft gegen derartige Zelte entscheiden wird.

SCHALKE UNSER:

Gutes Stichwort: „Polizei.“ Wo warst du während des Saloniki-Spiels?

THOMAS KIRSCHNER:

Ich war im I-Block und habe das dort verfolgt.

SCHALKE UNSER:

Wie beurteilst du dieses Manöver?

THOMAS KIRSCHNER:

Ich sehe es kritisch und denke, dass der Einsatz nicht hätte sein müssen. Da sind Dinge passiert, die man hätte vermeiden können. Ich weiß, dass Patrick und Volker sich vehement dafür eingesetzt haben, dass der Einsatz nicht stattfindet, weil es nicht im Sinne des FC Schalke 04 war. Es ist ein laufendes Verfahren, das uns weiterhin beschäftigt. Ich hoffe, dass das in Zukunft anders gelöst wird. Aber auch da hat die Polizei die Haupt- rolle inne und hat damals die Entscheidung so getroffen.

SCHALKE UNSER:

Die Medien berichten über angeblich mehr Gewalt. Hannover hat gegen Braunschweig das „Holländische Modell“ getestet, bei dem Fans nur noch geschlossen in Bussen reisen dürfen. Es wird gefordert, Kontingente für Gästefans zu reduzieren oder die Spiele ganz ohne Gästefans stattfinden zu lassen. Wo siehst du den Fußball in fünf oder zehn Jahren? Wird es noch Stehplätze geben? Wird es noch Gästefans geben?

THOMAS KIRSCHNER:

Ich glaube ja, weil ich der Meinung bin, dass diese Diskussion von den Medien immer wieder hochgespielt wird, sie aber nicht der Realität entspricht. Stehplätze wird es geben, und ich bin auch kein Freund der anderen Maßnahmen, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass die Fans trotzdem reisen. Da haben auch DFB und DFL gesehen, dass vielleicht nicht die richtige Maßnahme getroffen wurde.

Das „holländische Modell“ gefällt mir nicht und wäre vielleicht einer der Gründe, dass viele Leute nicht mehr fahren, wie es in Holland ist. Da gibt es noch 100 Gästefans und die Stimmung ist dementsprechend – auch in den Niederlanden gibt es Bestrebungen, das wieder zu ändern, weil der Fußball dadurch viel verliert. Deutschland mit seiner Auswärtsfahrerkultur ist etwas ganz besonderes, wo nicht nur der „harte Kern“ fährt, den man vielleicht aussperrt, sondern 5000 aus den verschiedensten Regionen. Es wird immer schwierige Spiele geben, aber das sollte man sachlich aufarbeiten und nicht verschiedene Maßnahmen in den Topf werfen. Ich denke, dass die Fanarbeit in Deutschland gut ist, genauso wie die Eigeninitiative der Fans, mit der man mehr erreicht, als wenn man die Leute aussperrt.

SCHALKE UNSER:

Glaubst du, dass man mehr mit statt gegen die Fans arbeiten sollte, wenn man sieht, wie die sich selbst organisieren?

THOMAS KIRSCHNER:

Definitiv sollte man immer mit Fans arbeiten. Als ich angefangen habe, zum Fußball zu reisen, war relativ wenig organisiert. Wenn man heute über die Schalker Meile fährt, haben verschiedene Gruppen Räumlichkeiten, die sie selbst finanzieren. Das ist nicht selbstverständlich. Da sieht man, dass den Leuten daran gelegen ist, das auch mit Leben zu füllen. Das soziale Engagement kommt dort auch zum Tragen. Wir sind gerne bereit, das zu unterstützen.

SCHALKE UNSER:

Dann auf gute Zusammenarbeit. Glückauf!