(idw) Es war in der Saison 1988/89. Damals war ich 14 und hatte es im Vorjahr geschafft, meine Eltern davon zu überzeugen, dass sie mich auf eigene Faust aus dem Sauerland ins Parkstadion fahren lassen können, ohne dass mir die ,,bösen Jungs” etwas antun würden. Die Tatsache, dass mein Vater ein gebürtiger Gelsenkirchener ist, erleichterten meine Touren. Ein anderer Umstand, ebenfalls in meinem Vater begründet, behinderte den in mir Raum greifenden Virus ungemein: Er war Lehrer. Nichts gegen Lehrer, wenn da nicht die Ferien wären. So ziemlich die ersten seiner Laufbahn nutzte er dazu, meine Mutter in Österreich kennenzulernen. Ein paar Jahre später erblickte ich das Licht der Welt und sah mich fortan mit einer Situation konfrontiert, die mir in Bezug auf Schalke das Leben vermieste: Meine Mutter hatte mit meinem Vater einen Kompromiss ausgehandelt, der besagte, dass jede Ferienminute in Kärnten verbracht werden muss. Ferien kommen bei Lehrern häufig vor.
So sah ich mich zu Beginn der Spielzeit 1988/89 vor dem Problem, dass mit dem Start der Liga auch die Sommerferien begannen und zwischen mir und dem Parkstadion nun 1100 Kilometer lagen. Schalke gegen Düsseldorf lautete die Auftaktpartie dieses Jahres, und ich hätte alles gegeben, um irgendwie dabeisein zu können. Also schloss ich eine Abmachung mit einem Freund: Ich wollte ihn von der Telefonzelle am Badesee aus in der Halbzeit anrufen, damit er mir sagen kann, wie es steht. Die letzten zehn Minuten der Schlusskonferenz wollte ich live erleben, indem er den Telefonhörer neben das Radio legte. Zehn Minuten, weil mein Taschengeld zu mehr nicht reichte. Das Spiel endete 1:1 und ich war zwar nicht unbedingt mit dem Ergebnis, wohl aber mit dem Umstand zufrieden, dass ich ,,live” dabei war. Überflüssig zu sagen, dass das ORF die Bundesliga – erst recht die Zweite Liga – bis heute unterschlägt. Erwähnenswert vielleicht, dass die ,,Bild am Sonntag”, leider die einzige deutsche Zeitschrift, die man auch in den abgelegensten Winkeln des Auslandes erhält, zu dieser Zeit in ihrer Ausgabe für Südösterreich einen Redaktionsschluss hatte, der lange vor dem Abpfiff lag. Erst am Montag ergab sich so die Möglichkeit, durch die reguläre ,,Bild” einen Eindruck vom Wochenende zu erlangen, allerdings nur, wenn mein Vater mich nach langem Betteln zum Zeitschriftenladen fuhr – lächerliche 15 Kilometer entfernt.
Meine Informationen waren an diesem Tag extrem exklusiv. Ich war der Leo Kirch von Kärnten, denn nur ich wusste, wie der Ball gerollt war. Eine Tatsache, die mir am Abend zugute kam. Denn bei einem Dorffest erzählte ich anderen ,,Sommerfrischlern”, dass ich die Ergebnisse der Liga kannte. Die Nachricht machte die Runde. Sofort wurde ich, der sich sein Taschengeld an diesem Abend mit Kellnerei auf Trinkgeldbasis aufbesserte, an jeden Tisch gerufen. Deutsche Urlauber wollten nur von mir bedient werden und ich schilderte ihnen in den tollsten Farben, wie Schalke sich gegen den Rückstand gegen Fortuna stemmte und durch Wassmer ausglich. Natürlich hatte ich auch die anderen Ergebnisse im Kopf, wucherte mit Infos für Kölner, Bayern und Hamburger. Das Trinkgeld floss – ,,Pay-per-Talk” sozusagen.
Am darauffolgenden Spieltag machte Schalke in Aachen Station und ich stand erneut vor dem Problem, wie ich an die ersehnten Ergebnisse kommen kann. Die Telefon-Variante fiel aus, da mein Verbindungsmann nun ebenfalls im Urlaub war. Also wieder ,,Herzlich Willkommen” in der Info-Diaspora. Wäre da nicht das Radio meines Großvaters gewesen. Das Teil stammte aus einer Zeit, in der Radiosendungen mit ,,Achtung, hier spricht Sender Hamburg …” begannen. Eigentlich hielt ich es für Schrott, doch eines faszinierte mich: Die Skala war mit Städten beschriftet. Wien war natürlich dabei, Belgrad aber ebenso wie Rom. Und Berlin, Hamburg, München. Sollte es möglich sein, deutsche Sender mit dem betagten Gerät zu empfangen? Also schaltete ich das Radio ein, justierte auf ,,München” und hörte – nichts. Meine Versuche, die Antenne mit Draht zu verlängern, brachten abgesehen von einem lauteren Rauschen nichts. Bis in die Nacht probierte ich – und siehe da: Mit Einbruch der Dunkelheit vernahm ich Stimmen, bei finsterster Nacht konnte ich gar ganze Sätze erlauschen. Mir wurde der Zusammenhang zwischen Sonnenstrahlen und Langwellenübetragungen bewusst.
Der Samstagnachmittag war gekommen. Schalke spielte und ich war nicht dabei. Ein schreckliches Gefühl. Da fiel mein Blick auf den Radiocassettenrecorder ,,Sharp GS 6767″ meines großen Bruders. Für die damalige Zeit ein Wunderwerk der Technik. Der ,,GS 6767″ bestach nicht nur durch ein tolles Design und der Möglichkeit, sich mit ,,APSS” die Spulerei nach Liedern zu ersparen, sondern auch über einen sehr guten Radiotuner. LW, MW, KW, UKW prangte neben einem Schalter und ich wusste mittlerweile, was es damit auf sich hatte. Meine Versuche auf Lang- und Mittelwelle ergaben keinen Erfolg, aber auf der Kurzwelle tat sich etwas. Ich hörte zwischen all’ dem Rauschen plötzlich Stimmen und eine sagte etwas ähnliches wie: ,,Toooor in Frankfurt”. Ich hatte die ,,Deutsche Welle” gefunden, die die Schlusskonferenz des WDR abstrahlte. Es machte mir nichts aus, dass das Radio jede Minute nachjustiert werden musste und ich so nur die Hälfte mitbekam – ich hatte genug gehört, um mir ein Bild machen zu können. Ich kannte die Ergebnisse, unter denen auch die Schalker 2:0-Schlappe in Aachen war. Aber das machte mir nichts aus, denn ich hatte mein Tor in ein neues Info-Zeitalter aufgestoßen. Selbstverständlich machte ich meine Informationen am selben Abend zu Geld, Eis und Cola – einige Urlauber hatten mein Kommen schon erwartet. Im Laufe der Monate und Jahre lernte ich besser mit dem Radio umzugehen, wusste, dass ein Freitagabendspiel über Mittelwelle direkt vom WDR zu empfangen war, Samstagsspiele dafür auf Kurzwelle auf Bayern 1 und der Deutschen Welle ausgestrahlt wurden. Die Ferien hatten für mich den Schrecken verloren. Manchmal empfing ich in meinem Bundesligastudio sogar Besuch von Urlaubern, die fasziniert auf meine geschickten Finger schauten, wenn sie die Skala um Millimeter nachjustierten, weil wieder mal der Sender flöten gegangen war.
Zeitsprung: Im vergangenen Frühjahr besuchte ich unser Haus in Kärnten. Skifahren stand auf dem Programm. Der technische Fortschritt ist auch an Österreich nicht vorbeigegangen. Wenn ich wissen will, wie Schalke spielt, schalte ich einfach den Sat-Receiver ein und kucke ,,ran”. Oder ich höre mir vorher die ebenfalls über Satellit ausgestrahlte WDR-Schlusskonferenz an, während auf meinem Handy die Spielstände per SMS reinrauschen. Ich habe auch schon in Kärnten Spiele bei einem Freund live auf Premiere gesehen. Die räumliche Distanz ist verschwunden. Die Medienwelt in den letzten zehn Jahren derart gediehen, dass es egal ist, ob ich ein Spiel in Deutschland, Österreich oder sonstwo auf der Welt verfolge. Über das Internet halte ich Kontakt mit Schalkern in aller Welt. Ein Freund wohnt seit 40 Jahren in Brasilien. Er hat nie aufgehört, Schalke-Fan zu sein und berichtet von Erlebnissen, die noch vor einem Jahrzehnt alltäglich waren. Damals war sein Kicker-Abo, das mit einwöchiger Verspätung eintrudelte, sein Hauptkontakt zur Bundesliga. Heute sieht er die Spiele regelmäßig live im TV. Er nutzt das Internet, besucht Online-Zeitungen. Er wohnt am anderen Ende der Welt, doch die neue Medien haben die Grenzen aufgehoben. Allein dass er am Samstagmorgen bereits um sieben Uhr zum Fernseher oder Computer schlurft, um seine Schalker zu sehen, unterscheidet ihn von Millionen anderer in Deutschland.
Die Diskussion um Pay-TV, Pay-Per-View, Kommerzfernsehen und die Dauerwerbesendung ,,ran” wird oft extrem kontrovers geführt. Ein Spiel an einem Samstagabend regt mich beinahe bestialisch auf. Dass uns der DFB nun auch noch die WDR-Konferenz wegnehmen will, macht mich wütend. Und wenn ich Monika Lierhaus am Touchscreen im ,,ran”-Studio sehe, dann wünsche ich mir Carmen Thomas zurück ins Sportstudio. Zeitschriften wie ,,Bravo Sport” ringen mir nur ein verkniffenes Lächeln ab. Viel schlimmer finde ich, dass der ,,kicker” an Format verliert. Das sind Folgen der Kommerzialisierung und es wird noch schlimmer werden. Die Frage ist, ob wir das Rad der Zeit wirklich zurückdrehen wollen? Der Junge in Österreich hätte diese Diskussion jedenfalls nicht verstanden.