Horrorszenarien malen nach Zahlen

„Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze“ legt Jahresbericht vor
Cover SCHALKE UNSER 84
Auszug aus SCHALKE UNSER 84

(axt) Solltet Ihr auch zu den Opfern des überzogenen Einsatzes der Polizei beim Spiel gegen Paoko Thessaloniki gehören, dann sei Euch hiermit gesagt: Offiziell existiert Ihr gar nicht. Zumindest, wenn man der hochoffiziellen Polizeistatistik glauben soll.

Auf öffentlichen Druck hat die „Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze“ (ZIS, früher „Datei Gewalttäter Sport“) nämlich auch die Zahl der Verletzten durch „polizeiliche Reizstoff“ auflisten müssen. Und die 87 Verletzten aus oben genanntem Spiel tauchen dort schlicht nicht auf: Ganze 6 Störer und 12 Unbeteiligte seien durch Bundespolizisten verletzt worden – in der ganzen ersten Bundesliga, in der ganzen Saison und inklusive der Anreisen.

Nimmt man die Zahlen für die Landespolizei hinzu, gab es durch „polizeilichen Reizstoff“ überhaupt 91 Verletzte: „Störer“, „Unbeteiligte“ und „Ordner“. Blickt man in den ZIS-Bericht für NRW, hat die hiesige Landespolizei gar nur einen einzigen Ordner – und sonst niemanden – mit Pfefferspray verletzt. Keinen „Störer“, keinen „Unbeteiligten“. Ein Ordner, sonst niemanden.

Zur Erinnerung: Es wurden 23 Strafverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet. Das scheint aber nur die Presse zu wissen, nicht die Polizei und nicht die ZIS. Überschrieben ist der Bericht übrigens mit: „bürgerorientiert – professionell – rechtsstaatlich“. Die Bundespolizei ist im NRW-Bericht an dieser Stelle – anderswo sehr wohl – auch gar nicht ausgewiesen.

Wohlbemerkt, es geht hier nicht um die laufenden Prozesse wegen des unverhältnismäßigen Einsatzes der Polizei, deren Ausgang man nicht kenne und sie darum vielleicht nicht erfasst: In ihrer Statistik – wir kommen später darauf zurück – sind grundsätzlich nur die eingeleiteten Strafverfahren erfasst, nicht die tatsächlichen Verurteilungen.

Aber das „polizeiliche Reizgas“ findet im Fließtext übrigens auch keine Erwähnung, und, um ganz genau zu sein: Diese schon untertriebenen Zahlen muss man sich selbst mühsam zusammenaddieren, denn nicht einmal das findet in dem Bericht statt – anders als bei der Pyrotechnik, Durch die kamen „nur“ 11 Unbeteiligte und 3 Ordner zu Schaden. Bundesweit.

In der Zusammenfassung suggeriert der Bericht ein Bedrohungszenario: „Im Vergleich zur vorhergehenden Saison 2012/13 ist sicherheitsgefährdendes und gewalttätiges Verhalten so genannter Fußballfans im Bereich der beiden Bundesligen insgesamt angestiegen.“ Von 788 auf 1281 sei die Zahl der Verletzten gestiegen, heißt es zunächst. Allerdings liege das auch an einer veränderten Erhebung, heißt es dann weiter. Nach alter Zählung sind es dann immer noch 896 Personen.

Und diese Datenbasis? „Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um eine nachträgliche Erhebung der Verletztenzahlen.“ Wie auch immer die vorher erhoben worden sind. Allerdings – und das ist das pikante – sind eben zu den 108 Verletzten jetzt auch die 91 Opfer des „polizeilichen Reizstoffes“ hinzugekommen. Für Statistiker liegt das durchaus im Rahmen der Standardabweichung, darf man hinweisen. Die Verletzten verteilen sich auf 13 Millionen Zuschauer der Partien der ersten Bundesliga zuzüglich nicht ausgewiesener Champions-League-Partien.

„Es liegen Hinweise auf einen zunehmenden Einfluss von Angehörigen der Ultraszenen in offiziellen Gremien der jeweiligen Heimvereine vor. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass sich Teile der deutschen Ultraszenen ihren erklärten Vorbildern in Italien immer mehr annähern, die durch organisiertes Auftreten gegenüber den Stadioneignern, den -betreibern, den Vereinen, dem Verband und auch Teilen der lokalen Politik den ‚Druck der Straße‘ erhöht haben, um sich möglichst unreglementierte Räume zu schaffen.“

Gleichzeitig lesen wir aber auch, dass die meisten Ultra-Anhänger nach wie vor der „Kategorie A“ – „der friedliche ‚Fan’“ (Anführungszeichen um „Fan“ von der ZIS gesetzt) zuzuordnen sind. Dennoch scheinen sie eine Bedrohung zu sein.

In die Kategorie B – „gewaltbereit/-geneigt“ fallen 4759 Ultras, in die Kategorie C „gewaltsuchend“ angeblich 1634 Ultras. Ganz exakt listet der ZIS-Bericht auf: „Gegenüber der vorhergehenden Saison 2012/13 ist damit ein Anstieg des Gesamtpotentials um insgesamt 125 Personen (+ 1,2 Prozent) dieser Kategorien zu verzeichnen.“

Eine scheinbar exakte Zahl. Doch die Datengrundlage ist die folgende: „geschätzte Angaben der Polizeibehörden über gewaltbereites Potenzial“. So schnell wird aus einer „gefühlten Einschätzung“ angeblich eine Statistik. Da graust es jedem Wissenschaftler.

Übrigens, für NRW sind die Zahlen – man ist versucht zu sagen, dummerweise – gesunken. Der Schluss: „Die Verminderung liegt innerhalb der üblichen Schwankungsbreite im Saisonvergleich und ist auf Veränderungen einzelner Problemszenen in NRW zurück zu führen.“ Bei sinkenden Zahlen statistische Schwankung, bei wachsenden Zahlen ein Bedrohungsszenario, das wachsenden Polizeieinsatz rechtfertigt – siehe unten.

Dabei hat sich in den vergangenen Jahren die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren gegen Jugendliche kontinuierlich reduziert. So viel zur gefährlichen jugendlichen „Ultra“-Kultur. Um die ZIS zu zitieren: „Die Attraktivität von Ultragruppierungen als ,Jugendbewegung‘ für Jugendliche und junge Erwachsene ist nach wie vor hoch, so dass weiterer Zulauf festzustellen ist.“ Bei sinkender Zahl der Strafverfahren gegen diese halt.

Dem Statistiker graust es übrigens auch, wenn er sich die Zahlen zu den Strafverfahren besieht. Die nackten Zahlen: Die Strafverfahren stiegen von einer Saison auf die nächste von 2817 auf 3263 und damit um 15,8 Prozent – und wieder: angeblich. Die exakte Wissenschaft hat dafür nämlich einen Namen: Dannenberg-Effekt.

1981 gab es zahlreiche Proteste gegen die Castor-Transporte im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Dort war daraufhin viel Polizei präsent, die aber zwischendrin auch normalen Streifendienst versah. Die Zahl der erfassten Verbrechen wuchs daraufhin rasant, weil mehr Straftaten verfolgt worden sind. Dass die Zahl der verübten Verbrechen gestiegen ist, darf man bezweifeln – nur die Dunkelziffer ist geschrumpft. Passenderweise steigen die Zahlen der Einsatzstunden und die der statistisch erfassten Straftaten im Umfeld der Bundesliga sehr synchron an.

Angestiegen ist – laut der Statistik – auch die Zahl der „freiheitsenziehenden/-beschränkenden Maßnahmen“ in Liga 1: von 6430 auf 7187 (plus 11,8 Prozent). Allerdings: „Die Gesamtzahl dieser Maßnahmen ist, wie auch in den Vorjahren, nicht identisch mit der Gesamtzahl der davon betroffenen Personen, da in den Fällen einer sich an eine vorläufige Festnahme anschließenden Ingewahrsamnahme einer Person beide Maßnahmen getrennt erfasst werden.“ Oder anders formuliert: in etwa der Hälfte der Fälle wird doppelt gezählt.

Und schlimmer noch: „Neben einer generellen Intensivierung der repressiven Maßnahmen“ – frei übersetzt: „hausgemacht nach Art von Dannenberg“ – „berichtete die BPOL in diesem Zusammenhang über die Durchführung teilweise umfangreicher ,Bearbeitungsstraßen’. Dabei mussten große Personengruppen (zwei- bis dreistellige Personenzahlen) aufgrund von Straftaten in Zügen und Bahnhöfen als mutmaßliche Tatverdächtige behandelt werden.“ Was folgte, waren danach allenfalls eingeleitete Strafverfahren gegen einzelne. So ist zu vermuten, dass dieser Anstieg auf „Bearbeitungsstraßen“ zurückzuführen ist, statistisch gesehen sogar gesunken sein kann.

Überhaupt darf man die Zahl der Strafverfahren nicht mit der Zahl der Straftaten verwechseln: Die Statistik gibt keinerlei Auskunft darüber, wie viele davon eingestellt worden sind. Der Leiter der „Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze“, Jürgen Lankes, kommentierte das gegenüber NTV so: „Das geht über polizeiliche Zwecke und unsere Möglichkeiten hinaus.“ Was unter „polizeilichen Zwecken“ zu verstehen ist, kann man spekulieren. Immerhin erfasst die Statistik auch die Arbeitsstunden der Polizei, addiert für die Bundesliga: 1.879.342 im Vergleich zur Vorsaison mit 998.258; dabei wird der DFB-Pokal nicht mitgerechnet. Dass dies „erforderlich“ sei, versteht sich von selbst.

Hier hilft ein Blick in den Vorjahresbericht mit einem herrlichen Beispiel: 50 bis 60 Personen hatten einen Bus der Fürther auf einem Rastplatz angegriffen. „Zur Aufklärung dieser Straftat, die als ,Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs’ bewertet wurde, wurde eine Ermittlungskommission eingerichtet, die in den folgenden Monaten nach Auswertung umfangreicher Beweismittel und zahlreicher richterlicher Beschlüsse und staatsanwaltlicher Anordnungen (u.a. zur Entnahme von DNA-Material, Durchsuchung von Wohnungen sowie zur Auswertung von Telefondaten) insgesamt ca. 30 Personen als am Tatort anwesende Beteiligte identifizierte.“ Das Ergebnis dieser massiven Grundrechtseingriffe lesen wir auch im Bericht: „Mit Stand: September 2013 wurden die eingeleiteten Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich durch die zuständige Staatsanwaltschaft nach § 170 II StPO eingestellt.“ Für Nichtjuristen: Es hat eben gerade nicht „genügend Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“ gegeben.

Wo wir gerade bei den Erfordernissen sind: In der vergangenen Saison, das haben alle Auswärtsfahrer festgestellt, ist die Polizeibegleitung von Fans in den Zügen massiv gestiegen. Das Ergebnis: 49 erfasste Straftaten bei 612 Ligaspielen bundesweit und 18 in NRW. Die Kosten-Nutzen-Rechnung darf sich jeder selbst erstellen.

Apropos hoher Aufwand: An den Stadien haben Ordner über ganz Deutschland in drei Ligen 30.899 Gegenstände sichergestellt. Nur erfahren wir bei einem sehr genauen Blick ins Zahlenwerk, dass fast die Hälfte allein in Bremen (8200) und Mainz (3635) draußen bleiben musste. Die sind durch ihre besonders albernen Kontrollen bekannt geworden. Um genau zu sein, das darf man einer Fußnote der Statistik im Anhang in kleinstmöglicher Schriftgröße entnehmen. Guckt man demgegenüber in den NRW-Bericht, erfährt man: Es sind an den vier Bundesligastandorten Nordrhein-Westfalens nur 655 „verbotene“ Gegenstände in der ersten Bundesliga gewesen.

Nun weiß man aber auch, dass in einigen Stadien Lippenstifte, Taschentücher und Nasensprays als so hochgefährlich eingestuft werden, dass sie draußen bleiben müssen. Im ZIS-Deutsch heißt das: „Bei dem überwiegenden Teil davon handelt es sich in den Standorten der drei genannten Ligen sowie im Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei um pyrotechnische sowie ,sonstige’ Gegenstände, die nicht differenziert erfasst wurden.“

Man hätte auch sagen können: „Lippenstifte und sonstige Gegenstände“, denn mal im Ernst: Wohl kaum hat jeder zweite den einen oder anderen Bengalo dabei.

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