(rk) In einer turbulenten Zeit bedarf es eines besonnenen Trainers. Während US-Präsident Richard Nixon den Abzug der amerikanischen Soldaten aus Vietnam bekannt gibt, Erich Honecker die Nachfolge von Walter Ulbricht antritt und das Bundeskriminalamt die Rasterfahndung zur Ergreifung der RAF-Mitglieder aufbaut, besteigt Ivica Horvat im Jahre 1971 die Trainerbank des FC Schalke 04.
Ivica „Ivan“ Horvat wurde 1926 in Sisak geboren. Wer noch alte Balkan-Landkarten auskramt, wird sehen, dass dies im ehemaligen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen lag und heute zu Kroatien gehört. Horvat trat lange Zeit (1945-1956) für Dinamo Zagreb gegen den Ball und hatte 60 Einsätze im Dress der jugoslawischen Mannschaft, mit der er bei den Olympischen Spielen 1948 in London und 1952 in Helsinki jeweils die Silbermedaille errang.
Im Viertelfinale der Weltmeisterschaft 1954 hieß der Gegner Deutschland. Es war kein glücklicher Tag für Ivica Horvat, denn mit seinem Eigentor in der 10. Minute brachte er Sepp Herbergers „Walter-Elf“ auf die Siegerstraße. Es war ein hochspannendes Spiel, bei dem die favorisierten Jugoslawen ein ums andere Mal auf das Tor von Toni Turek zustürmten. Es begann eine wahre Abwehrschlacht, Kohlmeyer rettete dreimal auf der Linie und einmal „half“ die Latte, den Ausgleich zu verhindern. Vier Minuten vor Schluss brachte dann ein 16-Meter-Schuss von Helmut Rahn das erlösende 2:0. Deutschland stand sensationell im Halbfinale – und gewann bekanntermaßen noch sensationeller gegen die ungarische Wunder-Elf das Finale in Bern.
1955 traf Ivica Horvat mit Dinamo Zagreb im Rahmen der Grasshopper-Trophy – eine Art Intertoto-Runde – auf den FC Schalke 04. Als Mittelläufer spielte er direkt gegen seinen späteren Weggefährten Günter Siebert, der in dem Spiel „keine Schnitte abbekam“. 1957 zog es Horvat nach Deutschland zur Frankfurter Eintracht, wo er bis zu seinem Karriereende blieb und auch seine Trainerlaufbahn einschlug. Zunächst als Co-Trainer, dann 1964 als Nachfolger von Paul Oßwald als Cheftrainer. Doch die Eintracht konnte in der frisch gegründeten Bundesliga nicht überzeugen und so wurde er ein Jahr später wieder entlassen. Sein Weg führte ihn zurück zu seinem Stammverein Dinamo Zagreb, wo er Seite an Seite mit seinem Trainerkollegen Branko Zebec gegen Leeds United den Messepokal, den Vorgänger des UEFA-Pokals, errang. 1970 kreuzten sich die Wege mit Schalke wieder. Im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger unterlag Zagreb den Königsblauen in beiden Spielen.
Schalker Jungbrunnen
Auf Schalke war inzwischen der frühere Stürmer Günter „Oskar“ Siebert an der Macht. Ein Mann mit Visionen, wie er beim FC Schalke 04 schon lange herbeigesehnt worden war. Siebert stellte eine Mannschaft zusammen, die an Potenzial ihresgleichen suchte. Siebert holte Reinhard „Stan“ Libuda zurück an den Schalker Markt, er „besorgte“ mit Norbert Nigbur eine unumstrittene Nummer 1, er fädelte die Tranfers von Klaus Fischer, Aki Lütkebohmert, Rolf Rüssmann und den Kremers-Zwillingen ein. Es war die Geburtsstunde einer Ausnahmemannschaft, der mit einem Durchschnittsalter von knapp 23 Jahren die Zukunft gehörte. Es fehlte nur noch der richtige Trainer. Und als im „Stern“ die ersten Frauen bekannten, abgetrieben zu haben, erinnerte sich Günter Siebert an Ivica Horvat, den er noch gut aus seiner Frankfurter Zeit kannte, und holte ihn von PAOK Saloniki als Nachfolger seines Landsmanns Slobodan Cendic nach Gelsenkirchen.
Im ersten Spiel der Saison 1971/72 ging es schon brillant los: 5:1-Sieg bei Hannover 96. Die Schalker Fans waren schier aus dem Häuschen und ließen Klaus Fischer für seine vier Tore hochleben. Und der Höhenflug hielt weiter an, es folgten drei weitere Siege sowie ein 6:2 gegen den 1. FC Köln, bei dem Klaus Scheer eine ganze handvoll Mal traf. Das bedeutet auch heute immer noch Schalker Rekord.
In der Glückauf-Kampfbahn waren die Schalker Knappen in dieser Saison unschlagbar: 16 Siege und nur ein Unentschieden gegen Mönchengladbach. Normalerweise hätten die am Ende der Saison erreichten 52:16 Punkte auch zur Meisterschaft gereicht, doch die Bayern waren mit ihrer Mannschaft um Franz Beckenbauer, Sepp Maier und Paul Breitner noch stärker. Doch Schalke hatte noch einen zweiten Trumpf im Ärmel: das Pokalfinale in Hannover gegen den 1. FC Kaiserslautern. Nach einem dramatischen Halbfinale gegen den 1. FC Köln (Entscheidung im Elfmeterschießen nach 21 geschossenen Elfmetern) bedeutet das 5:0 gegen die Pfälzer (Tore durch Helmut Kremers (2x), Klaus Scheer, Aki Lütkebohmert und Klaus Fischer) bis heute immer noch den höchsten DFB-Pokalfinalsieg. Die Schalker wurden wie Popstars empfangen, ganz Gelsenkirchen war in blau und weiß gefärbt. Und noch ahnte niemand, dass dies der letzte große Erfolg für die nächsten 25 Jahre sein würde.
Der Genickbruch
Schalkes Zukunft sah rosig aus. Doch die berümt-berüchtigte Geburtstagsparty des Kickers-Offenbach-Präsidenten Horst Gregor Canellas brachte die Bombe zum Platzen. Auf seiner Party zum 50. Geburtstag spielte er der versammelten Journalistenschar auf Tonband aufgezeichnete Beweise vor, dass es zum Ende der Saison 1970/71 zu Schiebungen und korrupten Abmachungen unter Bundesligavereinen gekommen war, deren Opfer gegen Ende die Offenbacher Kickers waren. Der erste Akt im Bundesligaskandal war eröffnet.
Schalke 04 hatte eigentlich anfangs nur eine Nebenrolle in diesem hässlichen Schmierenstück gespielt. Bei den vom DFB-„Chefankläger“ Hans Kindermann geführten Ermittlungen wurde aber festgestellt, dass unter anderem auch das Bundesligaspiel FC Schalke 04 gegen Arminia Bielefeld (17. April 1971, Endstand 0:1) „verkauft“ worden war. Die Knappen hatten vor ihrem Heimspiel gegen Bielefeld am 17. April 1971 einen Geldkoffer mit 40.000 Mark angenommen. Für jeden Schalker blieben also etwa 2300 Mark. Hätten die beschuldigten Schalker Profis die Bestechlichkeit zugegeben, wären sie vermutlich mit einer vergleichsweise milden Strafe vor dem Sportgericht davongekommen. Um einer Sperre zu entgehen, beteuerten sie aber hartnäckig, mit der ganzen Sache nichts zu tun zu haben, und deckten sich gegenseitig. Die Lüge flog auf, der geschworene Eid wurde zum Meineid. Der gesamte Prozess zog sich bis Ende 1975 hin. So wurde aus dem Bundesliga-Skandal später in der öffentlichen Wahrnehmung ein Schalke-Skandal. Über den Bundesligaskandal könnte man ganze Bücher schreiben – und das haben wir auch bereits getan. Wir empfehlen an dieser Stelle die Lektüre unserer Serie „Die schönsten Skandale des FC Schalke 04“ in unserem Buch „Die Spitze des Eichbergs“.
In der Saison 1972/73 herrschte also auf Schalke ein einziges Chaos. Die Spieler befanden sich mehr in den Gerichtssälen als auf dem Trainingsplatz. Der einzige, der den Durchblick behielt und den ruhenden Pol des Vereins darstellte, war Ivica Horvat. Er verzichtete auf den Einsatz von Klaus Fischer, setzte sich damit über Vorstandsbeschlüsse hinweg, und bewahrte Schalke mit seiner Weitsicht vor möglichen weiteren Strafen, die bis zum Lizenzentzug hätten führen können. Mit einer total dezimierten Rumpfmannschaft gelang ihm zumindest der Klassenerhalt. Mehr war beim besten Willen nicht drin.
Vaterfigur
Ivica Horvat genießt noch heute großen Respekt bei seinen ehemaligen Schalker Spielern. So sagt etwa Klaus Fichtel im Jubiläumsbuch zum 100-jährigen Bestehen des FC Schalke 04: „Er war für viele die Vaterfigur. In dieser Zeit mit dem Skandal traten zwangsläufig Probleme auf. Man konnte sich ihm anvertrauen, ohne sich Sorgen zu machen, dass das an die Zeitung getragen wurde. Er war ein Trainer, der zu uns passte. Mit ihm haben wir keinen ‚Hauruck-Fußball’ gespielt, sondern die Tore herausgespielt.“
Dennoch lief für Schalke in der Saison 1974/75 am Ende kaum noch etwas zusammen, wieder sprang nur ein 7. Platz herum. Deshalb gab es auch ein „tiefschürfendes“ Gespräch zwischen dem Vorstand und Trainer Horvat. Der gerade erst verlängerte Vertrag wurde wieder aufgehoben. Siebert damals: „Herr Horvat ist ein hervorragender Trainer, aber unsere Mannschaft braucht neue Impulse. Wir trennen uns als Freunde.“ Nach seiner ersten Dienstzeit wurde er 1975 von den Schalker Fans mit stehenden Ovationen geehrt. Er verabschiedete sich am 14.6.1975 mit einem 3:0-Heimsieg gegen Tennis-Borussia Berlin und trainierte fortan Rot-Weiß Essen, wo er unter anderem Werner Lorant als seinen Schützling begrüßen konnte. Anschließend nahm er von 1976 bis 1978 auf der Trainerbank des Zweitligisten Westfalia Herne Platz.
Comeback auf Schalke
Die Schalker Trainer nach ihm hießen Max Merkel, Friedel Rausch und Uli Maslo. Zwischen KarlHeinz Hütsch und Günter Siebert gab es öffentliche Scharmützel. Doch auf der Jahreshauptversammlung im März 1978 gab es das große Comeback von Günter Siebert. Hütsch war entmachtet, der Glamour-Manager Emilio Österreicher musste seine Koffer packen.
Doch die finanzielle Lage des Vereins spitzte sich immer weiter zu. Die Saison 1977/78 schloss Schalke im Mittelfeld der Tabelle als Neunter ab, der 1. FC Köln durfte sich Deutscher Meister nennen. Schalke verkaufte am Ende der Saison Hannes Bongartz nach Kaiserslautern. Sportlich sicherlich ein krasser Fehler, zumal im Vorjahr auch schon Branco Oblak verkauft worden war.
Schalkes Mannschaft war entscheidend geschwächt worden und stand nun ganz ohne Spielmacher da. Schalke hatte zwar für die neue Saison viele junge Talente, aber es fehlte das „Mittelalter“, Spieler um die 24, 25 oder 26 Jahre, die schon Klasse mitbrachten. Als herausragende Namen waren nur noch zu nennen Klaus Fichtel, Uli Bittcher, dazu die Nationalspieler Rolf Rüssmann, Klaus Fischer und Rüdiger Abramczik, die allerdings bei der Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien auch keine Bäume ausrissen. Rüssmann war dort immerhin noch einer der besten deutschen Spieler.
Für die neue Spielzeit 1978/79 holte Günter Siebert den alten Ivica Horvat als Trainer zurück, der nach vorzeitiger Trennung von Westfalia Herne in der Versenkung verschwunden war. Eine faustdicke Überraschung, aber offenbar wollte man den alten Geist wieder heraufbeschwören. Schalkes Präsident Günter Siebert war sich sicher, dass die Wahl Horvats richtig war: „Er kennt Schalke ganz genau. Er weiß, worauf es ankommt. Ich denke: Horvat führt uns wieder nach oben.“ Horvats Assistent wurde der Jugoslawe Fahrudin Jusufi, der bislang in Österreich tätig war.
Gerade die Heimspiele – in seiner ersten Amtszeit immer der Erfolgsgarant – wurden zur Schalker Schwäche. Gegen Stuttgart, Köln, Kaiserslautern, Düsseldorf und Braunschweig blieben wichtige Punkte nicht im Parkstadion. Hinzu kam ein ungeheures Verletzungspech: Die Kremers-Zwillinge, Lennart Larsson, Herbert Demange, Norbert Elgert, Jürgen Sobieray und Bernd Thiele fielen lange aus. Und so war sowohl in der Meisterschaft als auch im Pokal (1:2-Niederlage bei Bayer Uerdingen) der Zug schnell abgefahren.
Im gegenseitigen Einvernehmen
Nach weiteren Niederlagen gegen Frankfurt, Bayern und Bremen stand ein „Schicksalsspiel“ auf dem Programm. Gegen den VfL Bochum musste gewonnen werden, wollte man nicht ganz in den Abstiegsstrudel geraten. Ausgerechnet dieses so entscheidende Spiel wurde für eine Trikot-Benefizaktion der Deutschen Krebshilfe genutzt. Dr. Mildred Scheel, Gattin des damaligen Bundespräsidenten, führte den Anstoß aus und nahm einen Scheck in Höhe von 10.000 Mark entgegen. Doch nach der 1:3-Niederlage war keinem mehr nach Benefiz zumute.
Tags darauf wurde gehandelt. Während sich Horvat und Jusufi noch am Sonntag ein Spiel der Schalker A-Jugend gegen Wanne-Eickel (4:1) anschauten, war Siebert die Möglichkeit eingefallen, eventuell Gyula Lorant an den Schalker Markt zu holen. Der zuletzt in München weniger erfolgreiche Ungar wurde am Nachmittag bei Verwandten in Köln ausfindig gemacht, und er ließ sich von Charly Neumann nach Gelsenkirchen bringen, wo Günter Siebert zu Verhandlungen auf ihn wartete. Am späten Abend wurde man sich einig: Lorant sollte zunächst einmal das Traineramt bis zum Saisonende bekleiden. Siebert gab Horvat nicht die Alleinschuld an der Schalker Misere, doch auch Horvat sah ein, dass man handeln musste. Ivica Horvat, der sensible Jugoslawe, der Hüne mit dem großen Herzen und dem weichen Kern, war zum zweiten Male auf Schalke gescheitert. Nun hatte man sich auseinander gelebt, man trennte sich – wie man so schön sagt – „im besten Einvernehmen“.
Horvat hängte danach seine Fußballstiefel an den Haken, auch als Trainer übernahm er keine Mannschaft mehr. Er ging zurück nach Kroatien, wo er heute seinen Lebensabend verbringt – am liebsten in seinem Feriendominizil auf der Adria-Insel Krk.