(bob) SCHALKE UNSER schildert in aufwühlenden Tatsachenberichten die Entdeckung der Leidenschaft. Mitmenschen brechen das Schweigen. Sie berichten von Euphorie und Ekstase ebenso wie von Abhängigkeit und Apathie. Sie sind hörig – dem S04. Eine Serie voller Schicksale. Mitten aus dem Leben. Ungeschminkt. Ihr seid nicht allein. Und schreibt uns, wie es Euch erging beim ersten Mal…
Über das erste Mal zu berichten, heißt für mich, eine Reise in die Vergangenheit zu machen. Es muß so ungefähr 1962-63 gewesen sein. Gegen wen die Schalker spielten, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Ist auch irgendwie völlig bedeutungslos.
Schauplatz: „Schievenviertel“ in Gelsenkirchen-Erle. Jedem Gelsenkirchener gefriert bei diesem Wort das Blut in den Adern. Heute zählt die renovierte alte Zechenkolonie zu einer der beliebtesten Wohngegenden in Gelsenkirchen. Aber zu der Zeit als ein Neu-Schalker geboren wurde, sah die Welt noch anders aus. Ungeteerte Bürgersteige (prima Pfützen-Partys), Kohlgeruch, der durchs ganze Viertel schlich, und bei drückendem Wetter der Smog, ausgelöst durch die Kohleöfen in den Häusern, in denen die Deputatkohle vor sich hinglimmte. Diese Wetterlage trieb des Tags und des Nachts viele der dort lebenden Bergleute in die Fenster.
Das Silikosekeuchen und ?husten der alten Bergleute waren der Preis für ein hartes und entbehrungsreiches Leben, das die meisten schon mit Mitte 60 beendeten. Polnisch war Zweitsprache. Heute schmunzel‘ ich noch über Begriffe wie Mottek, Duppa oder Pischka. Meine Großeltern wohnten in der Steigerstraße. Schweine, Kaninchen, Hühner und jede Menge Gemüseanbau. Mit anderen Worten: ein Eldorado für uns Blagen.
An irgendeinem Samstag kam mein Vater zu mir auf die große Wiese, wo wir Kinder immer spielten, und sagte: „Komm Junge, wir gehen heute zusammen auf Schalke!“ Da ich dieses immer noch tue – auf Schalke gehen – gibt es eine Verbindung zwischen meiner Kindheit, deren Ende und meinem heutigen Leben. Die Fahrt zum Stadion ist gänzlich aus meiner Erinnerung entschwunden.
Den fußballerischen Urknall erlebte ich wissentlich auf der König-Wilhelm-Straße, der heutigen Kurt-Schumacher-Straße, vor der Glückauf-Kampfbahn. Schwarz vor Menschen war die Straße, der Verkehr wurde umgeleitet. Alles strömte in die noch heute bekannten Kneipen wie Wellhausen, Bosch, etc.. Die Straße und die Kneipen schienen aus allen Nähten zu platzen. Irgendwie lag was in der Luft. Fiebrige Hektik vermischte sich mit Getöse im Gedränge. Lange Schlangen vor den wenigen Kassenhäuschen, eben eine Stimmung wie sie für mich noch heute vor jedem Match in der Luft liegt. Kutten, Schals, Souvenirstände und Parkplatzprobleme gab es damals noch nicht.
Mein Vater und ich betraten die Glückauf durch das alte Backsteinkassenhäuschen an der Hubertusstraße. Die paar Meter in der Schlange und die 2,30 Meter hohen Backsteinmauern sind mir gut im Gedächtnis. Als Blag sieht man diese Dinge mit einer Spannung, wie man sie halt nur in der Kindheit erlebt. Im Stadion selbst sowie in den Bäumen hatten schon viele Zuschauer Platz genommen. Die Balkone der umliegenden Häuser waren gut gefüllt.
In der Erinnerung ist mir die Haupttribüne geblieben, die von imposanter Größe war. Heute erschrecke ich jedesmal, wenn ich ein Spiel verfolge, ob der gleichen Größe. Wir stellten uns in die Südkurve…ja, was heißt, wir stellten uns? Es war ein Kampf, auf unsere Plätze zu kommen. Dichtes Gedränge und Gequetsche, in deren Verlauf mir wieder mal meine 1,20 Meter bewußt wurden.
Apropos: vom Spiel habe ich nichts gesehen. Der Ball flog oft durch die Luft und zeigte sich ab und zu am Himmel. Die Sprechchöre und Anfeuerungsrufe zogen mich in ihren Bann. Die Gesichter und Emotionen der umstehenden Menschen faszinierten mich. Vom Spiel, nee, vom Spiel hab‘ ich wirklich nichts gesehen. Dieses Interesse kam erst viel später. Später, als ich mit meinem Freund den samstäglichen Fußmarsch von Erle nach Schalke antrat, um über die für uns nun nicht mehr unüberwindbaren Mauern des Stadions dem Spiel möglichst preiswert entgegenzusehen. Seitdem bin ich auf Schalke, und sie klingen noch heute im Ohr, die Rufe: Li-Li-Li-bu-da!