„Zivilcourage muss man erlernen“

(ae/dol) SCHALKE UNSER sprach mit der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach, über ihre Erfahrungen, über Gedenkfahrten nach Auschwitz und über das Verhältnis zu Schalke 04.

SCHALKE UNSER:
Die jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen verbindet inzwischen eine langjährige Beziehung mit Schalke und der Schalker Fan-Initiative. Wie kam es dazu?

JUDITH:
Ich wurde mal von der Fan-Ini wegen einer Ausstellung angesprochen. Ich habe damals schon die Fans als sehr engagiert wahrgenommen. Wir haben regelmäßig viele Dinge zusammen gemacht. Es ist so wichtig, dass man mit den Fans zusammenarbeitet, um auch nah dran zu sein. Wir haben die gleichen Interessen und da ist es ganz wichtig, etwas miteinander zu bewegen – gerade in der heutigen Zeit.

SCHALKE UNSER:
Schalke verbindet ganz viele Menschen – unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Glaubens. Und wer in Gelsenkirchen wohnt oder sich mit der Stadt beschäftigt, kommt an Schalke sowieso nicht vorbei.

JUDITH:
Nein, keine Chance. Als kleines Kind hatten wir eine Haushälterin, weil meine Eltern viel gearbeitet haben. Das war eine Rot-Kreuz-Schwester, die ein weißes Häubchen auf hatte und ein kleines braunes Ledertäschchen mit einem roten Kreuz darauf. Und das Größte für mich war, wenn sie mich mit in die Glückauf-Kampfbahn zu den Spielen mitgenommen hat, wenn sie dort Dienst hatte. Ab und zu durfte ich an der Hand mitgehen und ich erinnere mich an viele Situationen. Es war eine sehr familiäre Atmosphäre, die Spieler kamen zu ihr und dankten ihr, dass sie ihren Dienst verrichtete – und ich stand ganz ehrfurchtsvoll daneben.

SCHALKE UNSER:
Bist du auch Mitglied bei Schalke 04?

JUDITH:
Mitglied geworden bin ich vor zwei, drei Jahren. Ich fühlte mich schon immer als Mitglied, aber es fehlte noch der letzte formale Akt.

SCHALKE UNSER:
Die Verbindung mit dem Verein Schalke 04 ist ja in den letzten Jahren gut gewachsen.

Spurensuche am Grillo-Gymnasium, Foto: SCHALKE UNSER

JUDITH:
Ja, ich fand den Gedenktag an der 1000-Freunde-Mauer wichtig: Der Verein hat sich seiner Vergangenheit gestellt und sagt, dass man jüdische  Vereinsmitglieder, jüdische Spieler und einen jüdischen Präsidenten hatte. Der Anstoß kam dazu wohl von Dr. Christine Walther, der Archivarin des FC Schalke 04. Sie hatte sich bei mir gemeldet und es kam zu einer größeren Runde auch mit der Vereinsführung, die ich immer sehr engagiert erlebt habe. Es war der große Wunsch, dass man die Vergangenheit aufarbeiten möchte.

So kam es dazu, dass wir uns mit dem Grillo-Gymnasium auf die Spuren von Ernst Alexander begaben, einem früheren jüdischen Schalker Spieler. Ernst Alexander spielte bereits in der Schalker Jugend und floh nach der Reichspogromnacht in die Niederlande. Dort wurde er später verhaftet. Nach seiner Internierung im Lager „Kamp Westerbork“ wurde er nach Auschwitz deportiert und verstarb dort 1942. Heute kümmert man sich um die Aufarbeitung für die Zukunft, damals war man wohl eher froh, dass er weg war und man die Last eines jüdischen Spielers los war.

„Schalke hilft“ hat nun den Ernst-Alexander-Preis ins Leben gerufen. Da passiert schon Einiges. Ich finde das eine sehr positive und wichtige Entwicklung,   gerade in diesen Zeiten. Es gibt heute Parallelen in der Entwicklung zum Dritten Reich. Antisemitismus kommt wieder hoch, Rassismus wird wieder Raum gegeben, Hass, Vorurteile und Intoleranz sind zu vernehmen. Es gibt auch Ausdrücke wie „Asyltourismus“, die ich nie erwartet hätte. Außerdem sagen heute viele
„normale“ Menschen Dinge, die sie sich vor ein paar Jahren noch gar nicht getraut hätten: offen antisemitisch oder rassistisch. Das gehört heute schon zum Umgangston.

Da muss man sich dagegenstellen und mit Schalke erreicht man natürlich viele Menschen. Wenn man im Stadion sagt, dass man eines jüdischen Fußballers ge-
denkt, dann hören das gleich 60.000 Leute. Man muss allen klar machen, dass wir uns an einem ganz gefährlichen Punkt für unsere Gesellschaft befinden. Wir müssen uns wieder auf unsere Werte besinnen. Und auf das Miteinander. Eben so wie es beim Fußball ist: Man kann nur gemeinsam etwas
erreichen.

SCHALKE UNSER:
Wie ist denn die Zusammenarbeit mit der Stadt Gelsenkirchen? Dort hat man auch Probleme mit den Rechten, vor allem, wenn man sich den Ausgang der letzten Wahlen anschaut.

JUDITH:
Die Stadt macht sehr viel, wir haben gute Kontakte bis in die Verwaltung hinein. Sie gestalten den Pogrom-Gedenktag am 9. November und das Institut für Stadtgeschichte stellt Gedenktafeln an Erinnerungsorten auf. Man hat in der Stadt erkannt, dass man etwas tun muss. Man kann da nicht genug machen, es kann immer noch etwas mehr sein, aber ich glaube, es wird in Gelsenkirchen schon sehr viel getan. Ich würde mir aber eine stärkere Unterstützung der Schulen wünschen, in denen die Lehrer oft hilflos sind. Wir erleben häufig, dass bei Schulbesuchen halbe Klassen nicht mehr zu uns kommen, weil die muslimischen Schüler keine Synagoge besuchen möchten. Oder dass Kinder im Unterricht ihre Ressentiments äußern und die Lehrer da oft wenig Mittel an der Hand haben. Da braucht es mehr Unterstützung, so dass die Lehrer damit besser umgehen können.

Ein Junge ist in Gelsenkirchen zuletzt bedroht worden, als man hörte, dass er Jude ist. Man wollte ihn verprügeln. Einem Mädchen hat man vor längerer Zeit angedroht, dass man ihr das Genick brechen wird. Im Januar wurde jemand, der ein Käppchen getragen hat, vor der Synagoge furchtbar beschimpft. Es sind viele Dinge, die passieren. Auch die Scheiben unserer Synagoge werden ständig bespuckt.

SCHALKE UNSER:
Ist da nicht auch viel Unwissenheit dabei?

JUDITH:
Ja, aber wie kommt jemand dazu, jemanden, der ein Käppchen trägt, als „Scheiß Jude“ zu beschimpfen? Muslime tragen ja auch Gebetskappen oder Inder einen  Turban. Warum beschimpft man dafür jemanden? Man sollte sich auch mal klarmachen: Hitler wollte immer eine gleichgeschaltete Gesellschaft. Alle sollten gleich denken, alle solltenpolitisch gleich sein, alles sollte gleich sein. Aussehen, Denken – alles gleich. Und wer da nicht ins Raster passte, landete im KZ. Homosexuelle, Behinderte; alles, was nicht in die Norm passte, wurde vernichtet. Da sieht man doch, wie dankbar wir heute sein können, dass wir garantiert bekommen, alle so leben zu dürfen, wie wir möchten.

Der eine ist Jude, der andere Christ, der nächste Moslem. Wir dürfen alle das machen, was wir wollen, solange wir damit keine anderen Menschen beeinträchtigen. Und der Preis der Freiheit ist nur, dass wir den anderen auch die Freiheit geben müssen. Und das ist eine ganz große Errungenschaft unseres Landes. Wir sind am besten aller Orte, zur besten aller Zeiten. Das wissen leider viele nicht zu schätzen.

SCHALKE UNSER:
In unserer Schulzeit haben wir das Thema Nationalsozialismus sehr ausgiebig behandelt. Wir haben uns selbst im Stadtarchiv auf Entdeckungsreise begeben.
Wird so etwas heute noch gemacht?

JUDITH:
Man muss im Kindergarten, in der Grundschule oder in der weiterführenden Schule immer wieder die Geschichte erlebbar machen. Man muss wissen, was alles passiert ist und vor allem, wie es passieren konnte. Nämlich durch Gleichgültigkeit und durch fehlende Zivilcourage. Zivilcourage muss man erlernen. Da gibt es eine Geschichte, die im vergangenen Dezember passiert ist, die macht mir am meisten zu schaffen. Ich war zu einem Abendessen im privaten Kreise mit zehn Gästen eingeladen. Daswar erst alles sehr nett, die Gäste waren gebildete Menschen. Der Gastgeber hatte sogar das Essen ein bisschen auf mich abgestimmt, weil er mir einen Gefallen tun wollte, das war richtig nett.

Es entspannte sich eine Diskussion über Religion und es stellte sich schnell heraus, dass einer der Anwesenden eine sehr besondere Ansicht zur jüdischen Religion hatte. Es endete bei ihm in dem Satz, dass er sagte: „Und damals in Berlin, da waren die Juden doch alle reiche Kaufhausbesitzer, das kann man doch verstehen.“

Bei den Worten bin ich aufgestanden und nach Hause gefahren und habe das erste Mal in meinem Leben richtig geweint. Nicht wegen des Mannes, das war klar, wes Geistes Kind er war. Aber ich habe deshalb geweint, weil von den anderen acht kein Mensch etwas gesagt hat. Alle haben geschwiegen, niemand hat für mich Partei ergriffen. Es hat Wochen gedauert, bis jemand angerufen hat und gesagt hat, dass er sich für diesen Abend so furchtbar schämen würde, so etwas hätte er noch nicht erlebt.

Deshalb meine ich, man muss Zivilcourage haben und einstehen für das, was man denkt. So etwas darf man nicht zulassen. Es gab ja diesen Vorfall in Berlin beim jüdischen Restaurant Feinberg, der auch über Youtube verbreitet wurde. Da hat dieser Mann, der da rumgepöbelt hat, einen Satz gesagt, der bei mir ganz tief gesessen hat: „Niemand wird euch helfen, ihr seid ganz allein.“ Das hat er mehrfach wiederholt. Und so fühlte ich mich auch in dieser Situation: Niemand wird dir helfen. Du bist ganz allein.

Es gibt so viele Formen von Antisemitismus. Es gibt den alten rechten, den neuen rechten, den neuen linken oder den muslimischen Antisemitismus. Aber es gibt auch daneben – für mich genauso schlimm – noch so viele Menschen, die alles gleichgültig hinnehmen. Das ist die große Gefahr und man muss den Kindern beibringen zu erkennen, dass Antisemitismus nicht nur vordergründig die Juden betrifft, sondern Auswirkungen auf unser aller Zusammenleben hat. Wenn Juden hier nicht mehr leben können, dann betrifft es auch die gesamte Gesellschaft. Wenn man für seine Ideale nicht mehr eintritt, wird man auch sein eigenes Leben nicht mehr führen können. Irgendwann bricht auch das eigene Leben auseinander, wenn andere nicht mehr in Freiheit leben können.

SCHALKE UNSER:
Es macht für uns auch den Eindruck, dass häufig nicht zwischen dem Staat Israel und seiner Politik auf der einen und der jüdischen Religion auf der anderen Seite differenziert wird. Du bist hier in Gelsenkirchen aufgewachsen genau wie wir und musst dich nicht für die israelische Politik rechtfertigen.

„Betten Neuwald“ damals. Foto: Stadtarchiv Gelsenkirchen

JUDITH:
Es kommt in dieser Woche noch eine Schulklasse zu uns und da musste ich schon im Vorfeld klarstellen, dass es bei dem Besuch nicht um die Politik von Israel geht. Wir sind als jüdische Gemeinde eine Körperschaft öffentlichen Rechts, eine deutsche Institution, und wir sind nicht die Botschafter von Israel, genauso wenig, wie die muslimischen Schüler die Botschafter von Palästina sind. Wir möchten gerne über Religion sprechen, darüber, wie wir in Frieden und Respekt
zusammenleben können, aber nicht über Politik.

Israel hat für uns natürlich einen hohen Stellenwert. Erstmal kommt da unsere Religion her, genauso wie das Christentum, zum anderen haben sehr viele Juden nach dem Holocaust viele Verwandte, die nach Israel geflüchtet sind. Und zum Dritten ist Israel das einzige Land auf der Welt, das uns Zuflucht gewähren wird, wenn hier mal wieder alles schief geht. Welches andere Land würde uns sonst aufnehmen?

Aus diesen Gründen ist Israel ein besonderer Anlaufpunkt für uns. Aber es gibt Juden, die befürworten die Politik, und es gibt Juden, die halten gar nichts von der Politik Israels. Wir alle haben unsere persönliche Meinung dazu. Aber Israel wird eben das einzige Land sein, das uns aufnehmen wird, wenn es nochmal so wird wie im „Dritten Reich“.

SCHALKE UNSER:
Was wir alle nicht hoffen wollen.

JUDITH:
Ich kann mir das auch gar nicht vorstellen. Deutschland ist meine Heimat und mein Vaterland. Mein Vater ist aus Gelsenkirchen, mein Großvater und meine Urgroßeltern auch. Vermutlich auch schon weitere Generationen davor. Gelsenkirchen ist unsere Heimat. Und niemand darf mich aus meiner Heimat vertreiben.

SCHALKE UNSER:
Wir verbinden deinen Familiennamen in Gelsenkirchen immer noch mit „Betten Neuwald“.

JUDITH:
Mein Urgroßvater war Taxator der Stadt Gelsenkirchen, er hat dann einen Trödelhandel gegründet und daraus ist schließlich ein Bettengeschäft entstanden. Das war mal eine Institution hier. Es gab viele jüdische Läden in Gelsenkirchen und viele jüdische Kaufleute, die hier zum gesellschaftlichen Leben beigetragen und auch Schalke unterstützt haben.

Das eigentliche Wunder für mich ist, dass mein Vater nach der Vertreibung wieder zurück nach Gelsenkirchen gekommen ist. Man hatte ihm alles  weggenommen, ihn völlig entrechtet und schlecht behandelt, seine Glaubensanhänger getötet. Dass er sich entschieden hat, an den gleichen Ort zurückzukehren und all den Menschen wieder ins Gesicht zu schauen, die ihm das angetan haben, das ist schon bemerkenswert. Die waren ja in den ersten Jahren alle noch da, die waren über Nacht zwar alle aufrechte Demokraten geworden, aber es waren ja immer noch dieselben Menschen. Er musste ihnen in die Augen schauen, er wusste, der hat mir das Geschäft zerschlagen, der hat mich bestohlen, der hat mich verprügelt. Wie man so etwas aushält …

SCHALKE UNSER:
Vielleicht hat er all das mit dem Gefühl überstanden: „Ihr Arschlöcher habt mich nicht klein gekriegt. Schaut her, ich lebe! Und ich habe ein besseres Gewissen als ihr.“

JUDITH:
Ja, aber ob er wirklich über andere triumphiert hat, das weiß ich gar nicht.

SCHALKE UNSER:
Wir wünschen es ihm.

Die Synagoge in Gelsenkirchen, Foto: SCHALKE UNSER

JUDITH:
Jeder fünfte in Deutschland sagt, dass er keinen Juden in seiner Familie haben möchte, dazu gab es erst kürzlich eine Umfrage. Ich frage mich auch, wie das kommt. Wir haben immer hier gelebt und zu unserer gemeinsamen Kultur beigetragen. Mehr als tausend Worte in der deutschen Sprache kommen aus dem Jiddischen. Auch das Wort „Malochen” übrigens, kommt ja heute noch vor im „Kumpel- und Malocherclub“.

Es gibt immer noch zu viele Vorurteile und manche stellen sich über andere, was zum Problem für unsere Gesellschaft wird. Wir müssen sehen, dass wir alle in einer sehr privilegierten Gesellschaft leben. Die Leute nehmen das als selbstverständlich an, und erst wenn es mal weg ist, dann werden sie aufwachen. Das war im Dritten Reich genauso. Erst waren sie zu gleichgültig und als man ihnen die Rechte erst genommen hatte, da gab es keine Rückkehr mehr, nur noch totale Kontrolle.

Ich bin dankbar, dass sich im Fußball und auf Schalke eine Zusammenarbeit ergeben hat. Fußball hat mit Leidenschaft zu tun. Die Fußballer auf dem Rasen gehören auch allen Kulturen und Religionen an und sie haben sich geeint, einer Sache zu dienen. Und das können wir gut auf uns übertragen.

SCHALKE UNSER:
Der Jude Dr. Friedrich Levison, der später mit seiner Frau zum Katholizismus konvertiert ist und dann Fritz Lenig hieß, war der erste Nachkriegsvorsitzende des FC Schalke 04. Er ist während der Kriegszeit in die Niederlande geflüchtet, hat dort den Widerstand mitorganisiert, kam nach dem Krieg zurück und hat Schalke ein Jahr lang geholfen, in einer Zeit, als man für Kartoffeln und Fleisch von einem Dorf zum nächsten gezogen ist.

JUDITH:
Das ist ein schönes Beispiel, wie sich alles miteinander verbindet: Judentum, Christentum, Widerstand und Schalke. Es gibt leider nicht so viele Informationen über Dr. Levison, wobei ich noch Hoffnung habe. Als wir uns auf die Spuren von Ernst Alexander begeben haben, hatten wir auch zunächst kein Bild von ihm. Dr. Walther hat durch wirklich akribische Arbeit in den niederländischen Archiven ein Foto von ihm aufgetrieben. Und jetzt haben wir ein Bild von ihm. So etwas müssen natürlich Fachleute machen, aber vielleicht kann man nach Dr. Levison noch etwas tiefer forschen.

SCHALKE UNSER:
Das Schalker Fanprojekt, die Abteilung Fanbelange und „Schalke hilft“ organisierten und unternehmen jetzt im Oktober wieder eine Gedenkfahrt nach  Auschwitz. Andere Vereine organisieren auch solche Fahrten.

Cover SCHALKE UNSER 95
SCHALKE UNSER 95

JUDITH:
Ich finde, das ist wirklich eine Investition in die Zukunft, wenn man da Geld, Organisation und Willen ‘reinsteckt. Damit zeigt man den Menschen, was damals tatsächlich passiert ist. Das kann man sich ja gar nicht vorstellen. Wenn ich heute erzähle, dass man damals in Riga an zwei Tagen 27.000 Menschen umgebracht hat, dann ernte ich manchmal ungläubige Blicke. Das ist einfach unvorstellbar. Man sollte wirklich an den Ort fahren, wo das alles passiert ist. Da spürt man die Geschichte und das nimmt einen mit, man hat einen solchen Kloß im Hals, dass man es mitnimmt und weiterträgt. Das wird einen so nachhaltig beeindrucken, dass man es nicht wieder vergessen wird.

Es ist auch eine prägende Erfahrung, wenn man nach Buchenwald fährt, weil man eine so starke Diskrepanz erfährt. Man übernachtet dann meistens in Weimar, dem Ort der deutschen Hochkultur, dem Ort der großen Dichter und Denker, und wenige Meter weiter ist der Ort der größten Vernichtung. Dann steht man da und fragt sich: Wie passt das zusammen? Wie kann das sein?

Bisher war ich noch nie in Auschwitz. Meine Familie mütterlicherseits ist dort umgekommen. Das ist kein Ort, von dem ich mir vorstellen kann, hinzufahren. Ich hab mir auch nie vorstellen können, nach Riga zu fahren, wo meine Familie väterlicherseits im KZ war. Das sind sehr schwere Reisen. Aber sie sind wichtig für dieMenschen. Und wenn man da als Gruppe hinfährt, dann ist das auch eine Erfahrung, die einen zusammenschweißt.

Man hat in die Abgründe des menschlichen Wirkens geschaut und ich glaube, dass diese Erfahrung einander verbindet und dass alle danach den Wunsch haben, alles dafür zu tun, dass so etwas nie wieder passiert. Damit haben wir dann schon eine Keimzelle geschaffen, die sich dafür einsetzen wird, dass Hass niemals mehr Oberhand gewinnen kann.

SCHALKE UNSER:
Was wünschst du dir für die Zukunft?

JUDITH:
Ich wünsche mir sehr, dass wir es genießen, alle in unserem Land so leben zu dürfen, wie wir es möchten. Mit Respekt voreinander und vor allem, dass wir  miteinander kooperieren. Damit wir eine Gesellschaft schaffen, in der man sich aufeinander verlassen, viele Dinge bewegen kann und in der man sich sicher und frei fühlt.

SCHALKE UNSER:
Vielen Dank für das Interview, alles Gute und Glückauf.

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