Der DFB reagierte so, wie man es kennt: konfus. Ohne stichhaltige Beweise fiel ihm nichts anderes ein, als die Schalker Spieler Rüssmann, Libuda, Fichtel, Lütkebohmert und Nigbur aus der Nationalmannschaft auszuschließen. Dieter Burdenski, der beim besagten Spiel gegen Bielefeld den Schalker Kasten hütete, durfte aber immer noch in der DFB-Junioren-Auswahl mitspielen. Rolf Rüssmann entrüstet: „Ich bin erschüttert. Ich bin bereit zu schwören, dass ich kein Geld kassiert habe. Es ist mein ehrgeiziges Ziel, in die Nationalmannschaft zu kommen. Das wirft mich mindestens um ein Jahr zurück. Die beste Antwort an den DFB ist wohl, dass wir trotz aller Querschläger Deutscher Meister werden.“ Die Fronten zwischen DFB und Schalke 04 schienen verhärtet. Auch Schalkes Kremers-Zwillinge erteilten Bundestrainer Helmut Schön eine Absage für das Länderspiel in Budapest gegen Ungarn. Nicht nur der Bundestrainer fühlte sich auf den Schlips getreten, der gesamte DFB zeigte sich brüskiert.
Wegen der permanenten Nervenbelastung war es nur eine Frage der Zeit, wann Schalke schwächeln würde. Gegen Hertha BSC Berlin (0:3) verlor man dann auch die Tabellenführung an Bayern München. Doch Schalke gab das Titelrennen nicht auf und hielt mit einem 5:1-Heimsieg gegen Braunschweig und einem 3:2 gegen Oberhausen Anschluss.
Lebenslang
Hinter einer Sonnenbrille hatte Slomiany seine vor Nervosität flackernden Augen verborgen. Mit seinem ruhelosen Auf- und Abgehen in den Verhandlungspausen „seines“ Prozesses beim DFB-Sportgericht machte er den Eindruck eines Mannes, den der Skandal „geschafft“ hatte. Inzwischen hatte er sich in eine ausweglose Situation hineinmanövriert. Da half auch nicht sein bockiges Schweigen bei seiner Vernehmung, das er nur einmal unterbrach, als er in einem Ausbruch hinausschrie, nachts nicht mehr schlafen zu können. Alles Bitten und Betteln half nichts, Slomiany wurde lebenslang gesperrt. Während sich Mannschaftsbetreuer Ede Lichterfeld in Essen-Bergeborbeck in einem Krankenhaus wegen seiner Magengeschwüre behandeln ließ, sagten Günter Siebert und Ernst Kuzorra bei ihrer Vernehmung durch den Staatsanwalt in Gelsenkirchen unter Eid aus, nichts von einer Manipulation des Spiels Schalke gegen Bielefeld gewusst zu haben. Insgesamt erhoben 14 Schalker Lizenzspieler und Vorstandsmitglieder die Hand zum Schwur, kein Geld kassiert zu haben. Eines war nun klar: Es wurde ein Meineid geschworen. Nur war noch nicht klar, von wem: Von Bielefeld oder von Schalke?
Dreck am Stecken
Lange schon ging das Gerücht um, dass Dieter Burdenski, damaliger Torhüter im Spiel gegen Bielefeld, ebenfalls an den 40.000 Mark mitkassiert hätte. Lange wurde auch hierüber gelacht, denn Burdenski war in dem Spiel der beste Mann auf dem Feld und es gab überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass er geschmiert worden wäre. Aber auch er wurde unter dem großen Druck schwach und legte ein Geständnis ab. Von der Oberstaatsanwaltschaft Hamm wurde bestätigt, dass er nach dem Spiel 2.000 Mark und später noch einige Hunderter kassiert habe. Allerdings weigerte er sich hartnäckig, den Namen des Geldgebers zu nennen. Weiterhin wolle er auch nicht gesehen haben, dass andere Schalker Spieler beteiligt worden seien. Bei den Schalker Anhängern löste dies Alarmbereitschaft aus. Verwunderlich wirkte in Schalke die verbreitete Behauptung von Kindermann, dass er vom Geständnis des Dieter Burdenski schon seit Monaten gewusst habe. Obwohl er also von Burdenskis Geständnis wusste, ließ er zu, dass von Schalker Seite 14 Eide oder Meineide geschworen wurden, nichts von der Manipulation gewusst oder gar Geld kassiert zu haben.
Fußball wurde auch noch gespielt. Nach zwei Unentschieden (1:1 gegen Gladbach, 2:2 auf dem Betzenberg) hatte Schalke diesmal gegen Bielefeld nichts zu verschenken. Der 6:2-Sieg und der anschließende 2:0-Erfolg über den VfL Bochum brachten aber nicht allzu viel, da auch Bayern München zum Seriensieger wurde. Im Pokal hatte sich Schalke gegen Gladbach durchsetzen können und traf nun im Halbfinale auf den 1. FC Köln. Im Hinspiel unterlag Schalke den Domstädtern mit 1:4, der Traum vom Finale schien schon geplatzt. Hinzu kam, dass der DFB wieder mal Sperren aussprach, die auch Schalker Spieler betrafen und somit einmal mehr für Unruhe innerhalb der Mannschaft sorgten.
„Erst durch Presse und Fernsehen erfuhr ich, dass Hans Kindermann beim DFB-Sportgericht die sofortige Sperre unserer früheren Spieler Jürgen Galbierz, Hansi Pirkner und Manfred Pohlschmidt sowie von mir beantragt hat. Bis jetzt habe ich jedenfalls offiziell noch keinen Bescheid bekommen“, erklärte Schalkes Abwehrspieler Jürgen Sobieray, der erneut seine Unschuld beteuerte. Sobieray konnte den Beweis erbringen, dass er nach dem Spiel nicht wie angegeben mit Galbierz, Pohlschmidt und Pirkner im Löwenpark in Buer war, wo angeblich das Bestechungsgeld übergeben worden sei. Er sei nachweislich sofort zu seinen Schwiegereltern nach Frankfurt gefahren. Wieder mal wusste keiner, was wirklich los war. Sobieray wurde angeklagt, sein Prozess sollte im August beginnen. Die Schalker Fans hätten Kindermann am liebsten gelyncht. Jede Todesart sei er gestorben, berichtete der DFB-Staatsanwalt später. Vor allem nachts, wenn die Fans in den Kneipen nach dem siebten Bier Gewehr bei Fuß standen, klingelte sein Telefon: „Du kriegst einen Bauchschuss, du Drecksack!“ – „Heute Nacht brennt dein Haus, du Sau!“ – Er war froh, dass der Generalbundesanwalt und Terroristenjäger Kurt Rebmann direkt um die Ecke wohnte, so liefen die Polizeistreifen sein Haus automatisch auch gleich mit ab.
Elfmeterkrimi
Schalke erwartete die Geißbock-Mannschaft zum Rückspiel in der Glückauf-Kampfbahn. Nach dem 1:4 im Hinspiel rechneten wohl nur noch die kühnsten Optimisten mit einem Erreichen des Finales. Doch sie sollten tatsächlich recht behalten. In einem der dramatischsten Pokalspiele der deutschen Fußballgeschichte (Trainer Horvat: „Alles, was ich erlebt habe, wurde in den Schatten gestellt“) schaffte Schalke ein 5:2, glich nach damaliger Regel damit zum 6:6 aus. Das Elfmeterschießen musste entscheiden. Den 16. Elfmeter verschoss Bernd Cullmann, damit stand Schalke als zweiter DFB-Pokal-Finalist nach Kaiserslautern fest. Günter Siebert wurde ganz euphorisch: „Jetzt wollen wir das Double.“ Der 1. FC Köln war mit einigen wirklich sehr merkwürdigen Schiedsrichterentscheidungen überhaupt nicht einverstanden, legte dann auch Protest ein, der aber vom DFB abgewiesen wurde.
Schalke stand jetzt gehörig unter Terminstress. Zum einen nahte die Endphase der Meisterschaft, in der Schalke immer noch ein Wörtchen mitzusprechen hatte, das Pokalfinale stand noch mit Schalker Beteiligung an, und Deutschland stand im Finale der Europameisterschaft. Nach damaligem Modus wurden die Begegnungen bis zum EM-Viertelfinale mit Hin- und Rückspiel auf das Jahr verteilt ausgetragen. Erst ab dem Halbfinale trafen sich die vier besten Mannschaften zur EM-Endrunde in Belgien. Deutschland gewann gegen den Gastgeber durch zwei Müller-Tore mit 2:1 und besiegte im Finale die UdSSR mit 3:0. Bis heute steht ein Urteil, das kaum jemand in Frage stellt: Die deutsche Nationalmannschaft von 1972 war die beste, die es jemals gegeben hat. Beckenbauer, Netzer, Breitner, Müller und Erwin Kremers spielten einen Fußball vom anderen Stern. In der Bundesliga griff Schalke nach dem letzten Strohhalm. In wirklich allerletzter Minute gelang der 2:1-Siegtreffer im letzten Heimspiel der Saison gegen den VfB Stuttgart per Foulelfmeter. Es kam zu einem wahren „Endspiel“ im für die Olympischen Spiele gerade neu errichteten Olympiastadion in München gegen die Bayern. Bei einem Schalker Sieg wären die Königsblauen Deutscher Meister. 79.032 Zuschauer sahen allerdings eine überlegene Bayern-Mannschaft, die bei dem 5:1 eigentlich zu keiner Zeit etwas anbrennen ließ. Deutscher Meister 71/72 war Bayern München.