(ru) 2001. Viele Menschen denken bei dieser Jahreszahl zuerst an die Anschläge in den USA. Eigentlich kommt es in Gesprächen immer wieder vor, dass die Leute darüber reden und fragen, wie man diesen 11. September erlebt hat. Ich ernte immer wieder Reaktionen von Erstaunen bis Entsetzen, wenn ich anderen eröffne, dass ich an diesem Tag auf Schalke zum Champions League-Spiel gegen Panathinaikos Athen gefahren bin. Eigentlich zynisch, an jenem Tag ein Fußballspiel stattfinden zu lassen mit 60.000 Zuschauern – zumal zu einem Zeitpunkt, bei dem niemand weitere Anschläge außerhalb der USA ausschließen konnte.
Doch ich kann mich nicht erinnern, dass wir ernsthaft darüber nachdachten, nicht ins Stadion zu fahren. Nicht weil wir so borniert gewesen wären, die Tragweite der Geschehnisse nicht zu erblicken. Im Gegenteil: Im Stadion herrschte eine gespenstische Stille, man empfand es fast als pietätlos, dass die Athen-Fans lautstark ihre beiden Tore bejubelten. Nur war es wichtig, nach so einer Katastrophe, mit der man in den folgenden Wochen überall konfrontiert wurde, mit den für sich wichtigen Menschen zu sprechen und zusammen zu sein. Und für viele, mich eingeschlossen, gehört diese gesellschaftliche Gemeinschaft rund um den Lieblingsverein dazu. Ich stelle mal die These auf, dass, selbst wenn es an diesem Tag kein Spiel auf Schalke gegeben hätte, viele in ihrer Trauer und Bestürzung zum Berger Feld gefahren wären. Wenn ich Leuten von der Liebe der Schalker Fans zu ihrem Verein berichten soll, erzähle ich davon, dass es Fans gibt, die sich bei familiären Problemen mit einem Brief an den Verein gewendet haben und um Hilfe baten.
2001. Um ehrlich zu sein, denke ich bei dieser Jahreszahl zuerst an den 19. Mai. Vielleicht weil ich damals bei der verpassten Meisterschaft dabei war und emotional mehr involviert war. Ich muss wohl Gott danken, dass es so ist. Dass ich in meinem Leben noch nie in die Gesichter von tausenden weinenden Menschen blicken musste, bei einer „echten“ Tragödie, sondern „nur“ bei einer sportlichen. Zehn Jahre ist das Ganze her. Der 11. September hat die Welt zweifelsohne verändert. Der 19. Mai unsere kleine Welt, die manchmal eine Trutzburg gegenüber dem Alltäglichen ist. Seit jenem Tag wurde aus dem Wunschtraum Meisterschaft ein zwanghaftes Streben, das wohl hoffentlich mit Horst Heldts Rede auf der diesjährigen Jahreshauptversammlung endgültig eingedämmt wurde.
Doch der 19. Mai steht auch noch für etwas anderes – für das letzte Spiel im Parkstadion. Und für viele wird damit auch das Ende eines Lebensabschnitts datiert. Zehn Jahre spielen wir nun in der neuen Schüssel. Wer das Parkstadion-Gelände heute betritt, kann nicht glauben, dass hier einmal so eine Atmosphäre herrschte, dass sich selbst Inter Mailand die Hosen voll machte.
Viele haben ihre festen Plätze und Nachbarn in der Arena, die neue Heimat ist akzeptiert. Mit dem 5:1 gegen die Bayern und dem Spruchband „Unseren Traum habt ihr uns genommen – unseren Stolz erreicht ihr nie“ feierte die Donnerhalle ihr wirkliches Richtfest. Europapokalabende wie in der letzten Saison, das 7:4 gegen Leverkusen oder die Derbysiege bleiben lange in Erinnerung. Auch ich fühle mich wohl, wenngleich ich sagen muss: Im Parkstadion war es ein originäreres Fußballerlebnis, manchmal intensiver. Das hängt nicht mit einem „Früher war mehr Lametta“-Credo zusammen, sondern ist wohl einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass ich wie viele andere im Parkstadion groß geworden, vielleicht gar sozialisiert wurde.
Für Kinder ist die Welt der Erwachsenen eine Zauberwelt, in die sie nur zu gerne eintauchen wollen. Die Besuche im Parkstadion waren eine Art Eintrittskarte dafür. Wo sonst hatte man als Halbwüchsiger die Gelegenheit, dahin zu gehen, wo sich Erwachsene ausließen, schrieen, tranken, krakeelten und sangen. Die schlimmsten Beleidigungen und dreckigsten Witze habe ich in dieser Zeit im Stadion aufgeschnappt – egal, ob man es verstand oder nicht. Wichtig war, dass es aus der großen Welt der Erwachsenen stammte. Hier waren vorrangig Männer nicht so wie im richtigen Leben. Sie zündeten gegnerische Schals an, kippten sich bei Toren Bier über die Jacken und teilten lautstark mit, was sie schon alles mit der Frau des Schiedsrichters getan hatten.
Niemand fand das anstößig. Als Schalke einmal Bochum besiegte, spielte bei den Gästen der Stürmer Sergej Juran, der in der Woche zuvor wegen einer Alkohol-Fahrt seinen Führerschein verloren hatte. Also skandierten Männer mit Bierbecher und Bauchansatz: „Alki, Alki“. Niemand hinterfragte das. Dieses unglaublich weite Rund, bei Flutlichtspielen die vier Schatten der Spieler auf dem Rasen, die Halbstarken auf den Zäunen, die Rentner auf der Tribüne, der Mob in Block 5. Die Farbe an den Treppen abgebröckelt, knarzende Lautsprecher, die Toiletten mit einer Pissrinne, wie sie heutzutage „Amnesty International“ auf den Plan gerufen hätte. „Nicht ein Stadion – unser Stadion.“ Normalerweise hat jeder persönliche Orte seiner Kindheitserinnerung, diesen teile ich mit mir völlig wildfremden Menschen, die manchmal gar eine Dekade eher geboren sind.
Ich bemerke in der Arena auch viele Kinder, die nervös an den Ärmeln ihrer Eltern ziehen und die beim Betreten des Stadions große Augen haben. Sie kommen zu einer Zeit zum S04, in der Gesänge per Megafon vorgegeben werden, man mit Knappenkarte bezahlt und Kameras jeden Fan einfangen. 1998 stürmten wir den Platz, als Schalke durch ein 2:1 gegen Bielefeld den fünften Platz sicherte. Ein fünfter Platz wäre heutzutage ganz nett, mehr nicht. Ich kann nur hoffen, dass für die Kinder von heute der Stadionbesuch trotz allem Event ein ähnlich imposantes Erlebnis ist wie für mich früher. Und nicht nur eine Abwechslung zu PlayStation, MovieWorld und sonst was.
Zehn Jahre Arena, eher zehn Jahre ohne Parkstadion. Im Film „Fever Pitch“ sagt der Vater zu seinem Sohn: „Wir müssen dieses Stadion doch irgendwann hinter uns lassen.“ Der Sohn entgegnet: „Dieses Stadion werden wir nie hinter uns lassen.“ Die Vereinsvertreter kündigten unlängst an, sich mehr um die Glückauf-Kampfbahn und das Parkstadion zu kümmern. Ich hoffe, sie meinen es ernst.