Philipp Köster und Jens Kirschneck

„Eine Gazprom-Anzeige kommt uns nie wieder ins Heft“

(ru/rk) Es sagte bekanntlich bereits Sepp Herberger: „11 Freunde müsst ihr sein.“ Dass damit nicht nur der mannschaftliche Zusammenhalt gemeint ist, beweist das Fußball-Magazin „11 FREUNDE“ jeden Monat auf’s Neue. SCHALKE UNSER sprach mit zwei der 11 FREUNDE, Philipp Köster und Jens Kirschneck, über die mediale Fußball-Berichterstattung, wirtschaftliche Zwänge und die Zukunft der Ultras-Bewegung. 

SCHALKE UNSER:
Mittlerweile findet man das „11 Freunde“-Magazin in jedem Supermarkt – zwischen „Hörzu“, „Fix & Foxi“ und dem „Spiegel“. „11 Freunde“ hat sich neben dem „kicker“ als auflagenstarke Fußballzeitschrift etabliert. Wie steinig war der Weg dahin?

JENS KIRSCHNECK:
Die Keimzelle des „11 Freunde“ war ein Fanzine wie das SCHALKE UNSER auch. Bei Arminia Bielefeld gab es das „Um 15:30 Uhr war die Welt noch in Ordnung“. Über das habe ich Philipp und Reinaldo Coddou, den anderen Gründer und Profi-Fotografen, kennengelernt. Als „11 Freunde“ im Jahr 2000 gegründet wurde, gab es kein bundesweites Fan-Magazin. Auf den legendären Fan-Kongressen in Oer-Erkenschwick haben zwar immer wieder Leute ein bisschen herumgeplant. Aber das hätte wahrscheinlich erst einmal bedeutet, ein Plenum von zwanzig Fanzine-Schreibern einzuberufen. Und das hätte am Ende niemals funktioniert, weil alle eine andere Vorstellung davon gehabt hätten, wie so eine Zeitschrift konzipiert sein sollte.

Philipp Köster und Jens Kirschneck

PHILIPP KÖSTER:
Wir wussten, dass in England das vereinsübergreifende Fan-Magazin „When Saturday comes“ funktioniert. Aber als wir „11 Freunde“ gegründet haben, hatten wir noch ziemlich groteske Vorstellungen, wie man eine Zeitschrift herausgibt. Die erste Ausgabe zum Beispiel haben wir vor dem Berliner Olympiastadion verkauft, ganze acht Exemplare haben wir beim DFB-Pokalfinale Bayern-Werder an den Mann gebracht. Da kommt man sich bescheuert vor: 50.000 Leute marschieren an dir vorbei und gerade mal acht Leute kaufen das Heft. Wir haben anfangs auch nicht gewusst, dass es einen Vertrieb braucht und jemanden, der Anzeigen verkauft. Die ersten Jahre waren deshalb ziemlich ruinös, im Herbst 2002 hatten wir etwa 50.000 Euro Schulden angehäuft. Also, bittere Wahrheit: Ohne Professionalisierung gäbe es heute „11 Freunde“ gar nicht mehr.

SCHALKE UNSER:
Heute macht man euch immer mehr den Vorwurf, kommerziell geworden zu sein.

PHILIPP KÖSTER:
Das ist ja kein Vorwurf von heute, das haben wir schon 2003 gehört, als wir die ersten Anzeigen im Heft hatten. Wir werden es sicher niemals allen recht machen können. Es gibt immer Leute, die sagen, sie kaufen lieber ein Heft für 9,80 Euro ohne Werbung. Das würde aber nicht funktionieren. Die Faustregel für Magazine im allgemeinen ist, dass eine Werbeseite zwei Textseiten finanziert. Davon sind wir ja weit entfernt, wir haben von 116 Seiten gerade einmal etwa 20 Anzeigeseiten. Das geht noch, finden wir. Die oberste Prämisse ist aber, dass man glaubwürdig bleibt. Unsere Leser nehmen es uns nicht übel, wenn wir Anzeigen im Heft haben und trotzdem gegen die Kommerzialisierung des Fuß­ balls anschreiben, solange wir uns nicht von Anzeigenkunden unsere Meinung diktieren lassen.

SCHALKE UNSER:
Würdet ihr Anzeigenkunden auch ablehnen?

JENS KIRSCHNECK:
Sicher. Wir haben in der Vergangenheit aber auch Fehler gemacht, eher aus Unerfahrenheit denn aus Geldgier. Zum Beispiel haben wir einmal eine Drittelseite von „Gazprom“ im Heft gehabt. Unsere Marketing-Abteilung hatte die Anzeige angeboten bekommen, wir haben uns nicht energisch genug dagegen gewehrt.

PHILIPP KÖSTER:
Gerade diese Anzeige zeigt aber auch, wie schwierig es ist, da eine Grenze zu ziehen. Welche Firma hat keine Leichen im Keller? Aber im Falle „Gazprom“ ging es um die Frage der Glaubwürdigkeit. Ein paar Ausgaben vorher hatte uns der Mafia-Experte Jürgen Roth von den zwielichtigen Geschäften Gazproms in Russland erzählt, da dürfen wir drei Ausgaben später nicht für eben diese Firma werben. Dass diese Anzeige erschienen ist, bekommen wir heute noch von Lesern vorgeworfen. Uns bleibt da nur der Vorsatz, dass uns keine Gazprom-Anzeige mehr ins Heft kommt. Ganz generell: Wenn man über Profi-Fußball berichtet, gerät man ständig in Versuchung, ständig werden dir unmoralische Angebote gemacht. Nur mal so als Beispiel: Wie viel Druck schon gemacht wurde, dass wir doch bitteschön alle Stadien bei ihrem neuen Sponsorennamen nennen sollen. Das haben wir bisher nicht gemacht, und solange wir bei „11 Freunde“ sind, ist das auch eine Sache, die wir nicht tun werden. Das ist unser Tafelsilber. Das resultiert auch aus persönlichen Erfahrungen: Ich hatte körperliche Schmerzen, als die Bielefelder Alm in „Schüco-Arena“ umgetauft wurde. Ich glaube auch, dass Arminia schlecht beraten war, diesen Namen, der eine der wenigen Sachen ist, die Arminia von den anderen Klubs unterschieden hat, der auch das Profil des Klubs ausgemacht hat, zu verscherbeln. Das ist meines Erachtens nach einer der Gründe, warum der Verein auch so profillos dasteht.

SCHALKE UNSER:
Den Namen eines Stadions zu verkaufen, ist natürlich schnell verdientes Geld.

PHILIPP KÖSTER:
Man muss ja nur ein paar neue Schilder anbringen. Andererseits: In der heutigen Situation möchte ich auch nicht Manager eines Bundesligavereins sein. Die Funktionäre unserer Vereine tun doch auch viele Dinge, die ihnen eigentlich gegen den Strich gehen. Oder meint ihr, es macht denen immer Spaß, bei Sponsoren anzustehen und zu sagen: „Dieses Baustoffzentrum ist genau der Sponsor, auf den der Klub noch gewartet hat.“? Oder sich mit Gazprom in ein Boot zu setzen? Aber genauso wie es bei den Vereinen wirtschaftliche Zwänge gibt, gibt es die natürlich auch bei „11 Freunde“. Wir haben jeden Monat bei einer Auflage von 120.000 Exemplaren eine stattliche Druckrechnung zu bezahlen, wir haben 13 fest angestellte Mitarbeiter, unser Büro muss bezahlt werden und unsere Autoren werden ja ebenfalls honoriert. Die Kosten müssen wir erst einmal wieder reinholen.

SCHALKE UNSER:
Neben dem monatlichen „11 Freunde“ legt ihr inzwischen auch Bücher auf, vertreibt DVDs, presst Hörbücher und auch im Internet seid ihr auf 11freunde.de präsent. Wann kommt der mediale Angriff von euch auf das Fernsehen?

PHILIPP KÖSTER:
Es gab mal einen „11 Freunde“-TV-Piloten auf Premiere. Aber irgendwie hätten wir vorher wissen können, dass Magazinsendungen bei einem Pay-TV-Kanal wie Premiere nicht so gut funktionieren. Das haben sich gerade einmal 18.000 Leute angeschaut.

SCHALKE UNSER:
Auf Premiere klappt das vielleicht nicht, aber vielleicht beim DSF.

PHILIPP KÖSTER:
Beim DSF ist problematisch, dass jede Sendung durch Werbung total zerhackt wird. Es gab da doch mal diese Sendung über die Kreisliga mit Ulli Potofski. Eigentlich eine prima Idee, bis sie angefangen haben mittendrin das grandiose DSF-Handy anzupreisen und merkwürdige Gäste einzuladen. Am Ende war es ein systematisch runtergerocktes Format.

SCHALKE UNSER:
Aber wie sieht’s mit den dritten Programmen aus. Gerade der WDR hat sein altes Format „Sport im Westen“ aufgegeben und berichtet über die vielen Bundesligavereine in NRW – wenn überhaupt – nur noch in der Lokalzeit. Schlafen die Redaktionen dort alle?

JENS KIRSCHNECK:
Vermutlich haben sie kein Geld mehr für ein Sport-Magazin, weil sie bereits alles in die Sportschau-Rechte gesteckt haben.

PHILIPP KÖSTER:
Eine sehr steile Theorie, Jens.

SCHALKE UNSER:
Aber in Bayern oder im Norden klappt es doch auch.

PHILIPP KÖSTER:
Siehst du, schon ist deine These komplett zertrümmert. Und zur Ehrenrettung des WDR: Dort wird ja auch noch das Sport-Hintergrund-Magazin „Sport Inside“ produziert, eine der besten Sportsendungen überhaupt. Und im Prinzip gibt es ja das Fan-Magazin im Fernsehen bereits: Ich finde, dass „Arnd Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ meinen Vorstellungen darüber schon sehr nahe kommt. Allerdings läuft die Sendung auch auf einem bescheidenen Sendeplatz. Viertel nach zwölf finde ich schon ziemlich hart, wenn ich am nächsten Tag früh raus muss.

JENS KIRSCHNECK:
Dabei sieht man aber doch, was das Fernsehen so einer Sendung an Potenzial zutraut. Nämlich wenig bis nichts. Sonst würde die Sendung ja ein oder zwei Stunden früher kommen.

Philipp Köster und Jens Kirschneck

PHILIPP KÖSTER:
Was wir aber bei unserem Premiere-Piloten auch gemerkt haben: Es gab unheimlich viele Sitzungen gemeinsam mit der Produktionsfirma, wir haben enorm viel Arbeit in die Vorbereitungen gesteckt und je länger das ganze dauerte, umso weniger hatten wir bei dem ganzen Konzept mitzureden. Wir waren hinterher nicht einmal mehr bei der Produktion der Sendung dabei und hatten überhaupt keine Kontrolle mehr darüber, was da abging. Und dann haben wir uns gefragt: Bloß, um im Fernsehen zu sein, sollen wir uns das alles antun? Aber klar ist: Hintergrundberichte über den Fußball – sei es aus Fansicht oder anders – finden quasi nicht statt. Stattdessen gibt es immer nur die gleichen Berichte in „Bundesliga aktuell“ und auch Premiere lässt seine Zuschauer außerhalb der Live-Übertragungen am Wochenende vollkommen allein. Und das, obwohl der Fußball die absolute Lebensader für Premiere ist, denn kein Mensch abonniert Premiere wegen der Spielfilme.

SCHALKE UNSER:
Für unser Fanzine führen wir regelmäßig auch Interviews mit Schalker Spielern. In der letzten Zeit haben wir aber die Erfahrung gemacht, dass die Profis nicht mehr so frei reden. Jedes Interview muss von der Presseabteilung des FC Schalke 04 abgesegnet werden, zum Teil werden die Inhalte des Interviews dabei auch „zusammengestrichen“. Wie sind Eure Erfahrungen bei den „11 Freunde“-Interviews?

JENS KIRSCHNECK:
Generell werden unsere Interviews auch von den Pressestellen gegengelesen. Es gibt allerdings einige Ausnahmen. Wenn man etwa mit Michael A. Roth ein Interview führt, dann geht man hinterher raus und sagt, „Schönen Tag noch!“. Das ist noch die alte Schule – im Guten wie im Bösen.

PHILIPP KÖSTER:
In der Regel gibt es eher wenige Änderungen von den Pressestellen. Es ist aber inzwischen so, dass viele Spieler bereits eine „interne Handbremse“ haben, bei der sie selbst schon im Kopf alles wegstreichen, was in irgendeiner Weise konfliktträchtig sein könnte. Aber ich würde auch nicht allein den Spielern die Schuld dafür geben. Jede kleine Äußerung wird ja heute sofort von allen Medien aufgegriffen und durch den Verwertungswolf gejagt. Wenn etwa Michael Ballack auch nur die leiseste Kritik an einen Trainer oder Mitspieler äußert, kann man sich sicher sein, dass morgen 40 Zeitungen darüber berichten. Anschließend muss Ballack in den nächsten zehn Tagen den Sachverhalt wieder dementieren und geraderücken. Und fünf Jahre später bekommt er das Zitat immer noch unter die Nase gerieben. Ich kann jeden Spieler verstehen, der darauf keinen Bock hat.

JENS KIRSCHNECK:
Wir wünschen uns natürlich auch Spieler, die mal frank und frei reden, die auch echt was zu erzählen haben. Wenn wir uns mit einem 23 Jahre alten Spieler unterhalten, erhoffen wir uns auch ein anregendes Gespräch über Gott und die Welt, über Anekdoten und vielleicht auch Geschichten aus seinem Privatleben. Aber man muss auch sehen, dass sich viele Pofis seit ihrem 14. Lebensjahr mit nichts anderem mehr beschäftigt haben als Fußball. Da bleiben andere Dinge automatisch auf der Strecke.

PHILIPP KÖSTER:
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass, wenn man sich mit Trainern oder Funktionären unterhält, deutlich mehr dabei herumkommt, weil sie mehr Distanz haben, mehr über den Tellerrand blicken.

JENS KIRSCHNECK:
Und auch bei den Spielern gilt: Je erfahrener, desto mehr Substanz hat ein Interview. Man mag ihn ja finden wie man will, aber mit Oliver Kahn ein Interview zu führen, ist ergiebiger als mit einem 22 Jahre alten Jungnationalspieler.

SCHALKE UNSER:
Das Image des Fußballfans hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Vom besoffenen Proleten und vom Hooligan hin zum „intellektuellen Fan“. Meint ihr, dass das vielleicht auch durch Nick Hornbys „Fever Pitch“ gekommen ist? „11 Freunde“ schlägt ja in die gleiche Kerbe.

Cover SCHALKE UNSER 61
SCHALKE UNSER 61

PHILIPP KÖSTER:
Ich glaube, dass Nick Hornby nur einer allgemeinen Stimmung Ausdruck verliehen hat. Man sollte hier auch die Wirkung von Literatur nicht überschätzen. Angefangen hat diese Entwicklung etwa zu Beginn der 90er Jahre, als das Fernsehen entdeckt hat, dass mit dem Fußball viel Geld zu verdienen ist. Eigentlich hat der Fußball da sogar selbst entdeckt, dass er mit sich selbst Geld verdienen kann. Und die Entwicklung der Fankultur war dann nur ein Nebenprodukt der Umgestaltung des Sports. Der Fußball kommt ja doch eher aus den unteren Schichten, wenn man das so sagen kann. Obwohl es sicher auch schon in den 80ern und früher Intellektuelle auf den Stadionrängen gegeben hat, die sich vielleicht damit nicht getraut haben, das zuzugeben. Aber der Fußball hat sich gewandelt und ist zu einem Element der Showbranche geworden, womit auch andere Zuschauerschichten angezogen wurden. Die Leute, die heute ins neue HSV-Stadion gehen, die wären größtenteils früher nicht ins Volksparkstadion gegangen, einfach weil es diesen Komfort nicht gegeben hat.

SCHALKE UNSER:
Und wo sind dann die Stadiongänger von früher abgeblieben?

PHILIPP KÖSTER:
Ich glaube, es gibt inzwischen viele Leute, die nur noch Fans vor dem Fernseher sind. Die gehen nicht mehr in die Stadien, weil ihnen der Club nicht mehr soviel bedeutet, aber auch weil der Stadionbesuch zu teuer geworden ist. Mein Schlüsselerlebnis dazu war 1999, als wir zu Vorarbeiten zum „11 Freunde“ ein Stadionfoto machen wollten. Wir warteten auf die Pressemitarbeiter des SV Werder, als eine ältere Dame mit einer aufwendig zurechtgemachten Frisur hereinstolziert kam: „Wir haben einen Tisch für 14 Uhr bestellt.“ Da dachte ich: „Wo bist du jetzt? Beim Fußball oder im Drei-Sterne-Restaurant?“ Für mich ein Augenblick, der klarmachte: Hier geht es nicht mehr um Fußball, nur noch um Show und Entertainment.

SCHALKE UNSER:
Ja, inzwischen hat man auch das Gefühl, dass die Bundesliga-Spiele total durchgestylt sind.

PHILIPP KÖSTER:
Uns ist das besonders aufgefallen beim Spiel Schalke gegen Bielefeld. Wenn man sich mit Fans unterhält, dann hört man oft die Meinung, dass die erste halbe Stunde vor dem Spiel den Fans zum Warmsingen gehören sollte. Aber inzwischen ist da eine vollkommen durchorganisierte Choreographie entworfen worden. Elf Minuten vor Spielanfang läuft Oppa Pritschikowski, dann dreht einer den Regler für „Blau und weiß, wie lieb ich dich“ hoch. Alles in voller Lautstärke. Dann präsentiert irgendein Werbeträger die Mannschaftsaufstellungen. Und der Stadionsprecher grölt ins Mikrophon „Junge, hau’s raus!“. Als ob das eine vollkommen spontane Nummer wäre, stattdessen ist inzwischen alles minutiös geplant. Und das ist nicht nur auf Schalke so, sondern in jedem Bundesligastadion.

JENS KIRSCHNECK:
Da kommt es dann ja auch zu grotesken Szenen. Nach dem WM-Halbfinal-Aus gegen Italien dachte eigentlich jeder, jetzt könnte man mal kurz reflektieren und etwas trauern in diesem würdevollen Augenblick. Warum kann man da nicht auch einfach mal schweigen, so dass jeder denken kann: „Ausgeschieden. Scheiße.“? Aber nein, stattdessen reißt einer den Regler hoch und es läuft „You’’ll never walk alone“. Alles aus der Konserve. Fertig. Aus. Das Gleiche gilt für das DFB-Pokalfinale. Es dauert keine zwei Sekunden mehr, da wird nach dem Abpfiff „We are the Champions“ mörderlaut eingespielt. Als ob wir das Lied nicht alle schon oft genug gehört hätten! Und das Verrückte: Selbst die Verlierer reißen ihre Schals hoch und winken.

SCHALKE UNSER:
Auf Schalke war es eine ganz seltsame Situation, als die Ultras in den ersten Spielen der Saison ohne Vorsänger angetreten sind. Irgendwie schien es einerseits so zu sein, dass der Kurve der Capo fehlt, die Gesänge waren nicht so koordiniert, aber andererseits wird den Capos oft auch der Vorwurf gemacht, die Stimmung in der übrigen Kurve nicht richtig aufzunehmen.

PHILIPP KÖSTER:
In unserer Dezember-Ausgabe haben wir das Ultras-Thema aufgegriffen, und unsere These lautet dort, dass die Megaphone eine unheilvolle Wirkung haben: Die Kreativität der Fans wird dadurch beschnitten. Der Vorsänger berührt das grundsätzliche Prinzip, dass jeder im Stadion gleich ist. Die Anarchie und Wildheit, die früher ein Stehplatzblock hatte, wird dadurch, dass vorne am Zaun ein „Cheerleader“ steht, komplett gefährdet. Weil die Leute dann nur noch darauf gucken, was „der da vorne“ macht.

JENS KIRSCHNECK:
Im Grunde ist es ja fast so, dass der Ultras-Support inzwischen fast schon genauso normiert ist wie das, was aus den Stadionlautsprechern kommt. Das kommt einem so vor, als wäre es immer die gleiche Soße.

SCHALKE UNSER:
Die Zeiten sind wirklich andere geworden. Erinnern wir uns an die Uefa-Cup-Saison 1996/97. Beim Halbfinale gegen Teneriffa war irgendwann Stille im Stadion. Auf einmal – es muss so um die 70. Minute herum gewesen sein – stand ein Fan im Block I auf und stimmte einen Gesang an, der damals zum allerersten Mal in einem deutschen Stadion ertönte: Steht auf, wenn Ihr Schalker seid. Das hat richtig „Bumm“ gemacht. Der Gesang schwappte durch das Parkstadion und knapp 70.000 Fans gerieten außer Rand und Band.

PHILIPP KÖSTER:
So etwas ist wahrscheinlich heute kaum noch möglich, obwohl ich da natürlich auch etwas zwiegespalten bin. Denn prinzipiell ist es ja nicht verkehrt, die Mannschaft zu unterstützen und den Support zu verbessern. Was ich aber sehr vermisse, ist dieses Gefühl von früher, wie großartig es war, etwas in die Kurve zu rufen und auf einmal machte die ganze Kurve, das ganze Stadion mit. So etwas gibt es heute kaum noch, weil du überhaupt keine Chance mehr hast, gegen ein Megaphon anzukommen.

JENS KIRSCHNECK:
Die geilsten Gesänge sind spontan entstanden. Denkt doch mal an den schizophrenen schottischen Nationaltorhüter Andy Goram, der von den gegnerischen Fans mit „Two Andy Gorams, there’s only two Andy Gorams“ verkackeiert wurde. Solche Gesänge kommen doch nicht zustande, wenn du vorne nur einen stehen hast. Die komplette Kreativität hängt dann an diesem Vorsänger. Das kann gar nicht gut gehen. Und ich finde auch, dass sich die Ultras der einzelnen Bundesligavereine mittlerweile kaum noch von einander unterscheiden. Teilweise hört man nur noch minutenlangen Singsang, der die Mannschaft mehr einschläfert als unterstützt.

PHILIPP KÖSTER:
Nicht wenige Ultras-Fans scheinen hauptsächlich damit beschäftigt zu sein, „YouTube“ nach neuen Gesängen aus Italien, Spanien, Griechenland oder Südamerika zu durchsuchen, um sie dann anschließend auf den eigenen Verein umzutexten und damit zu kopieren. Echte Eigenkreationen sind man doch immer seltener. Verrückt ist auch, wie viele Leute heute mit Fotohandys herumrennen. Die kleinste Choreographie wird sofort mitgefilmt und bei „YouTube“ eingestellt, damit man der Erste ist. Vielleicht sind wir aber ja auch alle schon alt und sentimental geworden und denken: „Früher war alles besser.“

JENS KIRSCHNECK:
Das glaube ich eigentlich nicht. Wenn man mal einen größeren Zeitmaßstab anlegt, sagen wir in 50 Jahren, dann wird man auch sagen: „Da gab es doch früher auch mal die Ultras.“ Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Ultras-Bewegung für alle Ewigkeiten so festgeschrieben ist. Was meint Ihr denn?

SCHALKE UNSER:
Vielleicht ändert sich was, wenn alle Ultras Stadionverbot bekommen haben. Scherz beiseite, in Gelsenkirchen wird es jedenfalls zunehmend schwieriger, Ultras-Nachwuchs zu bekommen. Das liegt ganz einfach an der Ticketsituation. Die meisten Plätze sind durch Dauerkarten belegt, die ja auch quasi weitervererbt werden. Da wird es schwierig, jemanden zu begeistern, wenn er erst gar nicht die Gelegenheit bekommt, ins Stadion zu kommen.

PHILIPP KÖSTER:
Ich glaube auch nicht, dass wir zu dem bewegungsarmen Support der 80er Jahre zurückkehren werden, aber vielleicht geht der Weg dahin, dass sich die Capos wieder etwas zurücknehmen. Es müsste ein offeneres System geben. Ich finde es ja nicht verkehrt, wenn die Capos alle zehn, zwanzig Minuten mal auf ihr Podest steigen und einen Gesang anstimmen, wenn sie einen tollen Einfall haben. Aber 90 Minuten unentwegte Anfeuerung mit dem Rücken zum Spielfeld hat vielleicht nicht mehr die Zukunft. Das Gleiche denke ich übrigens auch über die „Materialschlachten“, diese immer größeren Choreographien, wo es nur noch darum geht, die gegnerische Fanszene in punkto verbrauchtes Material zu toppen. Ein Schwanzvergleich auf höherem Niveau. Die Ultras dürfen meines Erachtens auch nicht so tun, als wäre man das einzige elitäre Grüppchen, das den Traditionsgedanken des Vereins weiterträgt. Das kommt bei den anderen Fans, die dem Ultras-Gedanken nicht anhängen, oft so rüber und wird auch übel genommen.

SCHALKE UNSER:
Das kann man manchmal so auch auf Schalke beobachten. Vielen Dank für das interessante Gespräch. Glückauf!