Pfefferspray: Mehr als „nur ein leichtes Jucken im Auge”

(axt) Mit Einschätzungen hat es ja Einsatzleiter Klaus Sitzer nicht so. Zu der fatalen Fehleinschätzung während des Heimspiels gegen Paok kam im Nachklapp noch, Pfefferspray verursache ,,nur ein leichtes Jucken im Auge”. So kann man auch über eine Waffe reden, die von der Genfer Chemiewaffen-Konvention verboten ist. Richtig: ,,Chemiewaffe” ist das treffende Wort.

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SCHALKE UNSER 80

Der Wirkstoff im Pfefferspray, Oleoresin Capsicum, ist im Einsatz gegen gegnerische Soldaten schlicht verboten. Gegen Demonstranten und Fußballfans kann man es aber einsetzen – Grundlage ist in der Regel das entsprechende Polizeigesetz. ,,Wird Pfefferspray gegen Menschen eingesetzt, reagiert der Körper mit heftigen Symptomen, die zu einer meist vorübergehenden körperlichen Beeinträchtigung führen. Aber auch bleibende körperliche und seelische Schäden sind nicht auszuschließen.” So steht es in einem 2010 erstellten Gutachten aus dem Büro der Linken-Bundestagsabgeordneten Karin Binder, verfasst von ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Björn Schering.

,,Die psychischen Auswirkungen sind je nach Verfassung der betroffenen Person unterschiedlich. Die schmerzhafte, symptomintensive und schnell einsetzende Wirkung von Pfefferspray kann jedoch zu Angst- und Beklemmungsgefühlen, Orientierungslosigkeit, Aggressionssteigerung und panischen Reaktionen führen.” Und da wundern sich die Polizisten, dass sich Leute gegen ihren Einmarsch in die Kurve wehren.

,,Den Sicherheitsdatenblättern der Hersteller und der medizinischen Fachliteratur ist zu entnehmen, dass Menschen, die mit Pfefferspray in Berührung kommen, fast ausnahmslos einen Arzt aufsuchen sollen. In jedem Fall sind Erste-Hilfe-Maßnahmen erforderlich.” Auf Schalke hat die Polizei exakt das unterbunden.

,,Bei asthmatisch oder allergen vorbelasteten Menschen kann der Pfefferspraykontakt über die Atemwege zu bedrohlichen Zuständen mit akuter Atemnot bis hin zu Bewusstlosigkeit und Atemstillstand führen.” Wir wissen, dass genau das passiert ist – die Polizei zieht die Darstellung vor, die betroffene junge Mutter sei auf der Treppe hingefallen. ,,Aus einer Studie des US-Justizministeriums geht hervor, dass zwei Todesfälle im Zusammenhang mit Atemwegserkrankungen stehen.” Und: ,,Eine indirekte Gefahr geht vom Reizstoffeinsatz aus, wenn die Symptome bei den Betroffenen zu Angstreaktionen oder Schockzuständen führen. Bei einer Vorbelastung durch Herz-Kreislauf-Leiden kann eine lebensbedrohliche Situation entstehen.”

,,Besonders gefährlich ist der Kontakt mit Pfefferspray für Personen unter Einfluss von Drogen und Psychopharmaka. In den Vereinigten Saaten sind in diesem Zusammenhang zahlreiche Todesfälle dokumentiert. In Deutschland ereigneten sich im Jahr 2009 mindestens drei Todesfälle nach einem Polizeieinsatz mit Pfefferspray. Zwei der Opfer standen unter Drogeneinfluss, der dritte Tote war zuvor mit einem Beruhigungsmittel behandelt worden. In Dortmund verstarb im Juni 2010 ein Mann an den Folgen eines Pfefferspray-Einsatzes durch Polizeikräfte. Er stand nach Angaben der zuständigen Staatsanwältin unter Kokaineinfluss und hatte eine Atemwegserkrankung. Sie wies darauf hin, dass die Polizei nicht einschätzen könne, ob jemand Drogen konsumiert habe.”

Das Gutachten kommt zu dem Schluss: ,,Der Einsatz von Pfefferspray wird in den Vorschriften des Bundes und der Länder nicht oder nur unkonkret beschrieben. Die gesundheitlichen Auswirkungen von Pfefferspray sind kaum Gegenstand der Regelungen. Die Verwendung bei der Polizei erfolgt ohne eine medizinische Beurteilung der Wirkstoffe. Gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen durch Polizeibehörden sind gar nicht vorgesehen, obwohl die Fachliteratur gesundheitsbedrohliche Folgen des Einsatzes von Pfefferspray gegen Menschen beschreibt und zahlreiche Todesfälle belegt sind.” Da wundert es wenig, dass die Polizisten Sanitäter daran hindern, Menschen zu helfen, wie es notwendig wäre.

Fast prophetisch heißt es in der Studie schon im November 2010: ,,Werden Reizstoffsprühgeräte durch Vollzugsbeamte mitgeführt, muss sichergestellt sein, dass zur Erstbehandlung und ärztlichen Betreuung ausreichend Rettungskräfte vor Ort sind und diese die Verletzten auch erreichen können.”

Verfasst wurde das Gutachten für Demonstrationen. Dass es in einer vollbesetzten Nordkurve, in der ein schwarzer Mob mit weißen Helmen auch noch die Fluchtwege versperrt, kaum besser sein kann, ist ein Schluss, den wir uns hier erlauben.

Das Fazit des Gutachtens: ,,Pfefferspray ist zum Einsatz bei Polizeikräften als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt und zur Ausübung des unmittelbaren Zwanges nicht geeignet. Der Reizstoff und die dafür verwendeten Sprühgeräte können auf Demonstrationen nicht so eingesetzt werden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Mehrere Landesgesetze führen aus, dass die angewandten Mittel nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen sein müssen. Gegenüber Demonstranten ist es den Beamten jedoch nicht möglich, im Einsatzgeschehen gesundheitliche Vorbelastungen sowie den Einfluss von Medikamenten oder Drogen einzuschätzen.”

Und weiter: ,,Das konkrete Risiko einer lebensbedrohlichen Verletzung oder ein Todesfall kann bei Demonstrationen, beispielsweise zum Zwecke einer Platzräumung, nicht geduldet werden und ist daher nicht vom Grundgesetz gedeckt. Die Unkontrollierbarkeit der Wirkung von Capsicum-Reizstoffen stellt zudem das Erreichen des polizeilichen Zwecks bei Demonstrationen in Frage. Die von Reizstoffattacken verursachten Panik-, Angst- und Gegenwehrreaktionen bei den Betroffenen führen nicht zu einer besseren Kontrolle der Einsatzsituation, sondern erhöhen das Risiko der Eskalation.”

Sagen wir es mal so: Etwas mehr als ,,nur ein leichtes Jucken in den Augen” ist das schon.