Von A2 über B5 nach C3

(pr) Sports World, Superzeitlupe, Top-Spiel der Woche, Wiederholung des Jubels der Präsidentengattin, Gewinnspiele, digitale Tricks zur Messung des Abstand der Mauer – jedes Jahr dreht sich die Medienschraube schneller. Der Fußball selbst rückt immer mehr in den Hintergrund, das Ereignis ist die Übertragung, nicht das Spiel selbst. Das war auch mal anders.

Cover SCHALKE UNSER 27
SCHALKE UNSER 27

Viele kennen Sie noch, die Samstagnachmittage vor dem Radio. Um halb fünf begann die Konferenzschaltung, und bis viertel nach fünf war ein jeder von den Reportern in den Stadien abhängig. Die Tonlage des Schreis „Tor auf Schalke“ lieferte bereits erste Hinweise, ob die Blauen getroffen hatten oder den Ball mal wieder aus dem eigenen Netz fischen mussten.

Ein Rundfunkjuwel glückte den WDR2-Machern mit der Konferenzschaltung des letzten Spieltags der Saison 1998/1999. Der Abstiegskampf zwischen fünf Mannschaften, ständig wechselnde mögliche Absteiger und Änderungen im Minutentakt bescherten so manchem ein „Boah ey“-Erlebnis. Borussia Mönchengladbach und der VfL Bochum sind vor diesem letzten Spieltag bereits abgestiegen. Eintracht Frankfurt, Hansa Rostock, VfB Stuttgart, SC Freiburg und der 1. FC Nürnberg müssen den dritten Abstieger unter sich ausmachen. Am Ende erwischte es leider den Club aus Nürnberg, der vor dem Spiel die beste Ausgangslage als Zwölfter hatte, aber sein Heimspiel gegen den SC Freiburg verlor. Punkt­ und Torgleichheit gegenüber Eintracht Frankfurt, nur weil der Frankfurter Fjörtoft in der Schlußminute traf. Da gewann Schalke bei 1860 München mit 5:4, Hami Mandirali schoss zwei Tore, auch Jiri Nemec trug sich in die Torschützenliste ein und die Reporter hatten noch nicht einmal die nötige Zeit, die jeweiligen Zwischenstände aus dem Münchner Olympiastadion an die Hörerschaft durchzugeben. War aber auch sowieso egal.

Von Herbert Zimmermanns Reportage aus dem Berner Wankdorf-Stadion 1954 wurde in Westdeutschland immer wieder geschwärmt; etwas in Vergessenheit geraten ist, dass Wolfgang Hempel den deutschen 3:2­Sieg im Endspiel der WM 1954 gegen Ungarn für den Osten des Landes kommentierte. In den 50er Jahren hatten Reporter sachlich zu sein. Wer jemals die Endspielreportage von Herbert Zimmermann gehört hat, weiß, dass Zimmermann in dieser Sternstunde sämtliche Regeln über Bord warf, sich bei den Hörern für seine überschäumenden Emotionen entschuldigte und anschließend genauso weitermachte.

1924 begann die Geschichte der Fußballübertragungen im Rundfunk. In einer Zeit, als Rudern, Tennis und Motorsport bereits übertragen wurden, fristete der Fußball ein Schattendasein. Er galt nicht als gesellschaftliches Ereignis, und Probleme bereitete den Rundfunkpionieren die Frage, wie man denn ein Fußballspiel überhaupt übertragen könne. Wie sollte man dem Hörer klar machen, wo sich gerade der Ball genau befand und was auf der anderen Seite des Platzes passierte? Alfred Braun, damals 36 Jahre alter Schauspieler und Literat, hatte die Idee, das Spielfeld in Planquadrate aufzuteilen, entsprechende Pläne unters Volk zu bringen und dem Zuhörer dann live zu verkünden, dass der Spieler X soeben den Ball aus dem Planquadrat A2 zum Spieler Y in das Planquadrat B3 weitergeleitet hätte. Doch spätestens mit der Flanke von A5 nach C2 und dem langen Pass nach E8 hatte jeder (außer Alfred Braun) den Überblick verloren. Das Experiment scheiterte, aber die Lösung war ganz einfach. Alfred Braun schilderte in späteren Übertragungen einfach das, was er sah, und hatte damit einen Riesenerfolg.

Alfred Brauns Reportagen hatten in den 20er Jahren etwas Besonderes. Fußballübertragungen, Gymnastikstunden, eine Liveübertragung von einer Ankunft nach einer Atlantiküberquerung, die Übertragung der Trauerfeier für Gustav Stresemann, die Verleihung des Literaturnobelpreises an Thomas Mann – Alfred Braun wagte immer neue Rundfunkexperimente.

1933 wurde er verhaftet und kam ins Konzentrationslager Oranienburg. Nach seiner Emigration lehrte Braun in Ankara und kehrte 1939 nach Berlin zurück. Bis 1945 war er als Kriegsberichterstatter tätig und arbeitete an diversen NS-Propagandafilmen mit, obwohl er nie Mitglied der NSDAP war. 1947 begann er zusammen mit sowjetischen Kulturfunktionären die Rundfunkaufbauarbeit im Ostteil Berlins und 1950 wurde er trotz des politischen Zickzack-Kurses in seiner Vergangenheit erster Intendant des Sender Freies Berlin.

Viele Ältere schwärmen noch heute von seinen Reportagen, auch Herbert Zimmermann ist unvergessen. An Rudi Michel und Dietmar Schott denkt man gerne zurück, Manni Breuckmann, Günter Koch und Werner Hansch gehören zu den letzten, die eine Fußballübertragung im Radio zu einem echten Ereignis machen können. Sat1, Premiere, DSF und andere Sender glauben, dass sie den Fußball ständig neu erfinden müssten. Wer wird sich in 50 Jahren noch an die Namen dieser auswechselbaren Kommentatoren erinnern können?