(ru/axt) 1992 kam Uwe Scherr auf Schalke; zunächst trug er als Spieler dazu bei, den Abstieg abzuwenden und kurz darauf die Teilnahme am UEFA-Pokal zu erreichen. Nachdem er beim 1. FC Köln seine Profikarriere beendete, kehrte er als Spielbeobachter, Talentscout und Assistenztrainer der U19 zurück. Im SCHALKE UNSER-Interview blickt er auf den Wandel des Clubs, gewährt Einblicke in die Arbeit von Scouts und erzählt von seiner Flucht durch ein Klofenster.
SCHALKE UNSER:
Den meisten Fans fallen bei dem Namen Uwe Scherr direkt zwei Schlüsselmomente deiner aktiven Spielerlaufbahn auf Schalke ein. Kannst du dir vorstellen, welche?
UWE SCHERR:
Ich kann es mir vorstellen. Da ist zum einen die Flanke auf Andreas Müller im Mai 1996 im Spiel gegen Bayern München und – ich glaube ein Jahr zuvor kurz vor Weihnachten – das Tor zum 1:0 gegen den Hamburger SV. Die Anekdote mit der abgesprochenen Vorlage gegen Bayern stimmt übrigens. Wir haben morgens bei Jörg Berger vor dem Spiel einen Spaziergang gemacht, da habe ich zum Andy geflachst: „Wenn ich reinkomme, flank’ ich auf dich und du machst das Tor.“ Es kam tatsächlich genau so. Andreas Müller ist hier jetzt Manager und mehr oder weniger derjenige, der vorneweg geht, und ich versuche hier meinen Teil dazu beizutragen, dass dieser Traditionsverein weiterhin für positive Schlagzeilen sorgt. Wir stehen in regelmäßigem Austausch; wir kennen uns ziemlich lange und können uns so gegenseitig gut einschätzen.
SCHALKE UNSER:
Wie sieht deine Tätigkeit aus?
UWE SCHERR:
Ich hab jahrelang das Scouting in der Spielvorbereitung, also etwa Spielanalysen fast ausschließlich alleine gemacht. Der Trainerstab arbeitet aber immer mit. Wir haben noch weitere Leute, die in diesem Bereich aufgebaut werden sollen. Das Feld hat sich jetzt erweitert, ich richte jetzt mein Hauptaugenmerk mehr auf die Beobachtung von Spielern. Darüber hinaus bin ich seit Juli als Leiter für die Scouting-Abteilung zuständig.
SCHALKE UNSER:
Wie kommt es dazu, dass ein gewisser Spieler beobachtet wird? Wer guckt sich die aus?
UWE SCHERR:
Zum einen läuft viel über Mundpropaganda, dann über das, was man über Jahre hin gesehen hat – unterstützend hierbei sind Datenbanken. Wir begleiten Spieler, die vor vier oder fünf Jahren 17 oder 18 Jahre alt waren – also über einen längeren Zeitraum. Der wichtigste Faktor bei der Beobachtung ist, dass wir versuchen, ablösefreie Spieler zu verpflichten. Hier muss man vor allem über gewisse Verbindungen verfügen, um in Erfahrung zu bringen, wann und bei welchem Club die Verträge auslaufen. Wir arbeiten auch mit verschiedenen Systemen wie „Scout Seven“ aus England. Dadurch haben wir zigtausend Spieler weltweit erfasst. Meine Betrachtungen bei Spielbesuchen im Ausland habe ich da mit einfließen lassen.
SCHALKE UNSER:
Welche Werte stehen in diesen Datenbanken?
UWE SCHERR:
Die Werte in den Datenbanken sind sehr umfassend. Ein Außenverteidiger muss heute im modernen Fußball nicht nur hinten seine defensiven Aufgaben gut machen, sondern sich auch immer wieder geschickt in die Offensive einschalten. Alle Spieler sollten soviel Ballkontakte wie nötig und so wenig wie möglich haben. Beim Beispiel Peter Lövenkrands wird das Verfahren deutlich: Da ist uns aufgefallen, dass bei uns in der Tiefe zu langsam gespielt wurde – da haben wir einen schnellen Spieler auf diesem Gebiet gesucht und der war dann auch Gott sei Dank ablösefrei. Jetzt soll es im Optimalfall wirklich darauf hinauslaufen, dass wir sagen können: Wir haben für jede Position wirklich vier Topspieler in petto, zwischen denen sich die sportliche Leitung entscheiden kann – natürlich mit den Empfehlungen der Scouts.
SCHALKE UNSER:
Was heißt es genau, wenn gesagt wird: „Wir suchen Spieler, die zu uns passen“?
UWE SCHERR:
Es hat eine gewisse Söldnermentalität im Fußball Einzug gehalten, die wir letztendlich nicht mehr aufhalten können. Dennoch haben alle Spieler, die zu Schalke 04 wechseln, begriffen, dass das der Verein mit der allergrößten Tradition in Deutschland ist. Wir achten in Zukunft vor allem auf die Identifikation mit diesem Traditionsverein. Wenn ein Spieler drei Angebote hat und damit kokettiert und wenn er dann noch nicht weiß, was Schalke bedeutet, dann musst du eben sagen: „Ok, dann lassen wir das“. Beim Stichwort Identifikation: Wir begleiten unerkannt Spieler schon manchmal eine Woche lang und beobachten, wie sie sich im Training verhalten.
SCHALKE UNSER:
Inwieweit warst du an den Verpflichtungen für diese Saison beteiligt? Wie schätzt du die Chancen der jungen Spieler im Team ein?
UWE SCHERR:
Ich habe im letzten Jahr Spieler gescoutet, die im nächsten Jahr höchstwahrscheinlich zu uns stoßen werden. Ich war jetzt weniger beteiligt, weil ich bis Ende Juni das Scouting geleitet habe und Assistent von Norbert Elgert bei der U 19 war. Ich habe dort natürlich mit einigen jungen Spielern, die jetzt auf dem Sprung sind, zu tun gehabt. Die Qualität bei den jüngeren Spielern wird sich irgendwann durchsetzen. Bei Mesut Özil waren Norbert Elgert und ich auch im Vorfeld ganz klar einer Meinung, dass er den Sprung schafft. Für die Zukunft muss man vor allem einen Namen ins Gespräch bringen: Benny Höwedes. Ich persönlich glaube, dass er eine ähnliche Entwicklung nehmen kann wie Manuel Neuer. Er ist klar in der Birne und es hat unglaublich Spaß gemacht, zwei Jahre bei seiner Ausbildung mitzuhelfen.
SCHALKE UNSER:
Haben sich auch schon viele junge Spieler den Weg nach oben selbst verbaut?
UWE SCHERR:
Viele sind daran gescheitert, dass sie sich selbst mentalem Druck ausgesetzt haben. Häufig können diese Spieler ihr wahres Potenzial nicht richtig einschätzen. Das ist leider so. Die träumen alle von der Champions League, können sich aber in der Oberliga nicht durchsetzen. Da waren einige dabei, die sich da maßlos überschätzten und von ihren Beratern schlechte Ratschläge erhielten. Die schauen dann am Anfang schon aufs große Geld. Da sagen wir dann: „Das ist der falsche Weg. Wenn du gut bist, dann kommt das Geld auch irgendwann zu dir.“ Die meisten U19-Spieler haben bereits einen Berater. Da kann man sich nur wundern, was man da zu hören kriegt. Wir sagen zu den Jungs: „Eure Eltern sind eure besten Berater!“ Es sind nicht alle Berater schlecht, aber es gibt da schon einige Schwarze Schafe.
SCHALKE UNSER:
Was kann man von Gerüchten halten, wie dem, dass Riquelme bei Schalke auf der Wunschliste stand?
UWE SCHERR:
Jeder logisch denkende Mensch wird verstehen, dass Riquelme als Torschützenkönig bei der Copa America, der noch bei Villareal unter Vertrag steht, kein Thema sein kann. Meistens sind es Berater, die das Ganze ins Spiel bringen, um die Spieler in Deutschland oder Europa interessant zu machen. Man braucht jedes Jahr drei bis vier Topspieler, die den Verein verstärken. Da wird häufig spekuliert, da ziehen sich einige was aus der Nase.
SCHALKE UNSER:
Du arbeitest sehr eng mit dem Trainerstab zusammen. Mit welchem Trainer kamst du auf Schalke am besten zurecht?
UWE SCHERR:
Ich habe mit so vielen erfahrenen Trainern zusammenarbeiten dürfen, aber der beste für mich war Norbert Elgert. Ich hab von allen anderen sehr viel gelernt, aber von Norbert Elgert am meisten. Diese vier Jahre waren für mich wie eine Ausbildung zum Fußballtrainer. Darüber hinaus sind wir sehr eng befreundet, also Norbert Elgert hat einen Status für mich wie ein großer Bruder.
SCHALKE UNSER:
Siehst du deine Zukunft eher im Scouting- oder im Trainerbereich?
UWE SCHERR:
Ich beherrsche sämtliche Computersysteme, schreibe selbst Programme und bin immer am Ball geblieben. Mittlerweile bin ich so eingearbeitet und habe mich so darauf spezialisiert, dass sogar verschiedene Datenbanken nachfragen, was man besser machen kann. Ich will mich persönlich verbessern, aber auch dem Verein mit meinem Know-how weiterhelfen. Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht und habe das Glück, weiterhin im Fußballgeschäft tätig zu sein. Ich bin einfach glücklich, bei diesem Verein zu sein. Wie das jetzt im Einzelnen weitergeht, wird sich zeigen, aber das, was ich momentan mache, bereitet mir sehr viel Spaß.
SCHALKE UNSER:
Wenn du jetzt einmal zurückblickst auf dein erstes Jahr auf Schalke. Was hat sich am meisten verändert?
UWE SCHERR:
Die Infrastruktur. Hier war nur ein Ascheplatz neben dem Trainingsgelände, als ich gekommen bin. Jetzt stehen hier mehrere Trainingsplätze für alle Jugendmannschaften. Die Tennishalle wurde umgebaut, es wurde Kunstrasen mit einem großen Spielfeld verlegt. Die sportliche Abteilung hat mit dem Ganzen eigentlich immer Schritt gehalten; wir haben in den letzten drei Jahren jetzt zweimal die Champions League erreicht, waren ansonsten immer international dabei. Da ist gute Arbeit geleistet worden. Hier sind im Verein sehr viele Leute, die einen fantastischen Job machen. Es ist schön, das Wachsen zu beobachten, gerade wenn man vielleicht auch selbst einen minimalen Anteil daran hat. Ob man jetzt in der ersten Reihe steht oder in der dritten Reihe, man sollte trotzdem immer seine Leistung abrufen, und so denken viele hier – das Drumherum ist dann vielleicht die Quintessenz daraus.
SCHALKE UNSER:
Wir haben jetzt erfahren, wie in etwa die Sichtung von Spielern heute abläuft. Bei deiner Verpflichtung vor 15 Jahren wurde das aber noch anders gehandhabt. Günter Eichberg soll einen Tipp von Berti Vogts erhalten haben, dich zu holen und soll dich dann auf der Autobahn abgefangen haben, als du auf dem Weg zu Vertragsverhandlungen in die verbotene Stadt warst.
UWE SCHERR:
Ich hatte zu dieser Zeit mit mehreren Vereinen Kontakt. Aber es passierte wirklich so: Wir waren auf der Autobahn in Höhe Köln, ich fuhr zusammen mit einer damaligen Beraterin. Das Telefon klingelte und mir wurde gesagt, ich solle mal bei Günter Eichberg vorbeischauen. Das lag auf dem Weg. Wir hatten an diesem Tag zum ersten Mal Kontakt, aber noch keinen Vertrag abgeschlossen oder so etwas. Unterschrieben habe ich erst Wochen später. Das ist dann in der Öffentlichkeit verdreht worden.
SCHALKE UNSER:
Glaubst du, ein Typ wie Eichberg wäre in der heutigen Situation mit Scouting-Abteilungen, Datenbanken usw. noch vorstellbar?
UWE SCHERR:
Es führen Leute heutzutage Vereine in der ersten und zweiten Liga mit wenig Fachkompetenz im sportlichen Bereich. Das mögen sehr gute Geschäftsleute sein, haben aber wenig Ahnung vom Fußball. Im Gegensatz dazu ist Schalke da auf einem richtigen und erfolgreichen Weg.
SCHALKE UNSER:
Wo siehst du denn jetzt deine Heimat? In der Pfalz, in Franken, wo du geboren wurdest, oder im Ruhrgebiet?
UWE SCHERR:
Da muss ich ehrlich sagen: Ich habe Kontakt mit Sascha Borodjuk, Jiri Nemec usw. Jeder von denen, der weiterhin im Fußball zu tun hat, schätzt dieses Gefühl, das man hier auf Schalke hat. Und das ist doch das größte Gut, das es gibt. Außerdem kommt meine zweite Frau aus Recklinghausen, wir haben hier in Marl gebaut und leben dort mit unseren Kindern. Es macht einfach Spaß, hier zu arbeiten. Die Mentalität, das passt wunderbar. Wenn du Leute triffst wie Willi Koslowski – ganz ehrlich – da dankst du Gott, dass es so ist, wie es ist. Wobei ich ja auch ganz genau weiß, dass ich damals ein sehr teurer Einkauf war und von vielen belächelt wurde. Da wurde gesagt, es geht nur ums Geld – das ist das Problem, wenn man in so eine Schublade gesteckt wurde.
SCHALKE UNSER:
Hat sich nach deinen ganzen Reisen durch Europa als Spielbeobachter oder Scout etwas bei dir eingeprägt?
UWE SCHERR:
Ich habe einen Karton zu Hause, da habe ich alle meine Tickets von den Spielbeobachtungen aufgehoben. Die beste Stimmung hab ich in Schottland erlebt: in dem kleinen, 18.000 Zuschauer fassenden Stadion von Hearts of Midlothian, als die ihr Derby gegen Hibernian gespielt haben. Das war Gänsehaut pur. Phänomenal. Wir haben ja einmal im Februar gegen Schachtjor Donezk gespielt; die Saison in der Ukraine beginnt allerdings erst im März. Also musste ich jeweils dorthin, wo Schachtjor im Trainingslager war. Bei einem dieser Vorbereitungsspiele in Istanbul wurde ich 30 Meter vorm Hotel von vier Männern umstellt, die mir ein Messer an den Rücken hielten. Ich musste mein Bargeld abgeben und sollte dann zum Geldautomaten, da hab ich dann die Messerspitze richtig gespürt. Als sie das Geld hatten, sind sie abgehauen. Der Wachmann des Hotels hat nichts getan, obwohl er alles genau sehen konnte. Das war so ziemlich die negativste Erfahrung.
In Osteuropa wurde ich am besten betreut von den Leuten dort. Außer einmal bei Wisla Krakau: da sind neben mir ein paar Raketen hochgegangen. Die zünden da ja überall Feuerwerkskörper. Da muss man schon aufpassen. In Bukarest weiß keiner zum Beispiel, wo deine Tickets hinterlegt sind. Da hab ich mir dann selbst die Tickets gekauft. In unserer ersten Champions League-Saison war ich beim Spiel Panathinaikos Athen gegen Arsenal London. Nach dem Spiel auf dem Weg zurück zum Hotel hab ich mir noch drei Bierchen getrunken. Plötzlich verlangte der Besitzer des Ladens 900 Euro. Angeblich soll zwei Läden weiter eine Nackt-Bar gewesen sein, deshalb der Preis. Der Besitzer machte mir deutlich, dass ich 900 Euro zu zahlen hätte, ansonsten würde es ungemütlich. Ich bin dann durchs Klofenster geflüchtet und zum Hotel gelaufen. Das war ein Extrembeispiel, normalerweise beschränkt es sich – wenn es geht – immer auf „Flughafen – Hotel – Stadion – Hotel – Flughafen“. Das habe ich gelernt. Demnächst geht es nach Moskau, aber da ist der Sascha Borodjuk an meiner Seite.
SCHALKE UNSER:
Das ist vielleicht auch eine gute Idee, wenn es nächstes Jahr im Mai nach Moskau geht. Danke für das Gespräch und Glückauf!