Siebert setzte die Verjüngungskur fort. Jürgen Sobieray aus der Schalker Jugend hatte bereits bei Weisweiler in Gladbach unterschrieben, wurde aber von Günter Siebert überredet zu bleiben. Rolf Rüssmann, ebenfalls Jugendnationalspieler, kam aus Schwelm. Im April 1970 hatte Siebert die Forderung aufgestellt, „Wir brauchen einen Mittelstürmer und Torjäger“, und erstmals den Namen Klaus Fischer ins Gespräch gebracht. Der damals 20 Jahre alte Vollblutstürmer, der zwei Jahre zuvor als „Rohdiamant“ vom SC Zwiesel nach München kam, war trotz seiner 19 Treffer mit 1860 abgestiegen. Die ’60er wollten allerdings ihren Torjäger auf keinen Fall abgeben. Der Schalker Vorstand schaltete jedoch schnell, schließlich war die halbe Bundesliga hinter Fischer her. Günter Siebert und Heinz Aldenhoven fuhren ins verschneite Zwiesel und sprachen mit Fischer und seinen Eltern.
Während der Verhandlung schellte auch der Geschäftsführer von 1860 an der Tür. Siebert und Aldenhoven kletterten durch das Fenster und sprangen in den meterhohen Schnee hinter dem Haus, warteten so lange, bis der Münchener fort war, und verhandelten dann weiter. Mit dem Ergebnis, dass sie am 1. Mai einen rechtsgültigen Lizenzspielervertrag mit dem Mittelstürmer präsentierten. München 1860 stimmte aber Fischer wieder um, der Scheck mit dem Handgeld landete wieder in Gelsenkirchen. Die Schalker fuhren erneut in den Bayerischen Wald. So ging es hin und her, ein Verfahren vor dem DFB drohte, bis die ’60er einsahen, dass Schalke 04 am längeren Hebel saß.
Schalke baute in der Spielzeit 1970/71 auf viele große Namen, darunter Nigbur, Burdenski, Fichtel, Rausch, Rüssmann, Sobieray, van Haaren, Scheer, Lütkebohmert, Libuda, Pirkner und Fischer. Trotzdem begann sie mit einem Knatsch, der vielerorts erwartet worden war: Günter Siebert war des öfteren schon mit Trainer Gutendorf aneinandergeraten. Im September 1970 war Schalke das ewige Theater mit Rudi Gutendorf endgültig leid. „Das Maß ist voll“, stellte Präsident Siebert mit ernster Miene fest. Schalke und Gutendorf trennten sich in „gütlichem Einvernehmen“, wie es meist nach Trainerabschüssen so schön heißt. Der Jugoslawe Slobodan Cendic, bisher Assistent und Jugendtrainer, wurde Gutendorfs Nachfolger.
Auf der Trainerbank neben ihm saß übrigens etliche Wochen lang „Mr. Schalke“ persönlich: Ernst Kuzorra! Er gab, solange der Jugoslawe noch nicht alle nötigen Lizenzen besaß, seinen Namen für die Trainerliste des DFB her. Das Schalker Idol feierte im übrigen am 16. Oktober 1970 seinen 65. Geburtstag und gleichzeitig seine 50jährige Vereinszugehörigkeit. Für ihn gab der Club im Hotel „Zum Schlachthof“ einen großen Empfang, bei dem alle Lizenzspieler anwesend waren.
Von Wolke 7 auf Sohle 8
Zunächst schienen sich Sieberts Träume zu erfüllen. Gleich im ersten Spiel unter Cendic gab es einen 2:1-Erfolg über den BVB. Schon am elften Spieltag standen die Schalker auf dem zweiten Platz. Äußerst positiv war nach Abschluss der ersten Serie auch die Bilanz in Sachen Nationalelf. Der Talentschuppen von Schalke 04 machte es möglich, dass gleich fünf Schalker in der Nachwuchsmannschaft des DFB auftauchten (Nigbur, Sobieray, Scheer, Lütkebohmert und Rüssmann), Fichtel und Libuda spielten bereits einige Jahre in der Nationalelf. Nigbur hätte diesen Sprung sicherlich auch geschafft, und er wäre möglicherweise zu einem wirklichen Konkurrenten für Sepp Maier herangereift, wenn er nicht ein zu loses Mundwerk an den Tag gelegt hätte. Als er im Aufgebot für das Junioren-Länderspiel gegen England in Leicester auftauchte und nicht im Kader der Nationalmannschaft, drehte er durch. In einem „Bild“-Interview schimpfte er wie ein Rohrspatz und erteilte Helmut Schön eine Abfuhr. Der lud ihn prompt wieder aus und vergaß ihm diese Entgleisung nie.
Schalkes Zukunft sah rosig aus. Auf der Jahreshauptversammlung konnte Schatzmeister Heinz Aldenhoven eine äußerst positive Bilanz vorlegen. Schalke überschritt bei den Einnahmen die Drei-Millionen-Grenze. Doch sportlich war zum Ende der Saison 70/71 nicht mehr viel drin. Der Anschluss an die Spitze ging immer mehr verloren. Siebert verlor erneut die Geduld und kündigte Cendic, der aber vorerst weiterhin die Mannschaft betreute, was der sportlichen Situation nicht gut tat. Es wurde nur noch lustlos trainiert und lustlos gespielt. Für die Schalker gab es in dieser Saison nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren. Deswegen kam es auf eine Niederlage mehr oder weniger nicht mehr an. Eine der sechs Niederlagen der Schalker in den letzten acht Spielen aber – die gegen Arminia Bielefeld – sollte ein grausames Nachspiel haben. Doch dazu später mehr.