Krasnodar – Schalke 0:1, 20. Oktober 2016
(sts) Als ich meinem Sohn vor einigen Jahren in einem Anfall von Leichtsinn versprach: „Die erste internationale Auswärtsfahrt, die in die Schulferien fällt, machen wir gemeinsam“, da konnte ich nicht ahnen, dass das Reiseziel nicht Mailand, Madrid oder London lauten würde, sondern Krasnodar.
Es half alles nichts, auch kein gespieltes Desinteresse an diesem Reiseziel meinerseits. „Egal, da fliegen wir trotzdem hin“, schallte es mir freudig entgegen. War der Zeitraum zwischen Auslosung der Paarung durch die UEFA und dem Spieltag ohnehin schon äußerst sportlich für diese eher anspruchsvolle Reiseplanung, so verkomplizierte sich die Angelegenheit zusätzlich durch die unklare Situation um einen Tagesflieger, der sich im Verlauf vollends in Luft auflöste. Das sorgte in der Folge dafür, dass erstmals seit vielen Jahren nur eine dreistellige Anzahl von Anhängern den FC Schalke zu einem internationalen Auswärtsspiel begleiten sollte.
Blieb für mich als einzige Option, um mein Versprechen einzuhalten, die vom Verein angebotene Reise im Mannschaftsflieger, was für den jugendlichen Teil der Familie erkennbar kein allzu saurer Apfel war. „Titan-Airways.“ Aha? Die Recherche zeigte alsbald, dass sich dahinter keine Airline von der gefürchteten schwarzen Liste, sondern ein Spezialist für Business-Charterflüge mit variabler Bestuhlung und Sitz in London verbarg. Anders als zunächst erwartet entpuppte sich der Pilot der Maschine auch nicht als Oliver Kahn und das an Bord servierte Essen – und hier insbesondere die sehr britischen Sandwiches – als außerordentlich schmackhaft. Der vierstündige Flug endete am frühen Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein und völlig unerwarteten 16 Grad Celsius direkt in Krasnodar, der mit 830.000 Einwohnern südlichsten Großstadt Russlands.
Die Erkenntnis, dass nahezu alle Schalker im Flieger neben ihrem Visum auch einen Einreisestempel aus der nur 200 Kilometer Luftlinie entfernten Ukraine in ihrem Reisepass hatten, sorgte im Zubringerbus zum überschaubaren Terminal für eine teils gespannte Erwartung. Die Einreiseprozedur gestaltete sich dann auch zu einer äußerst humorfreien Veranstaltung. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, wie häufig man vom Foto im Reisepass ins Gesicht und wieder zurück in den Reisepass blicken kann, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Der Bustransfer zum Hotel führte vorbei an schier endlosen Vorstadt-Häuserblöcken mit ein- bis zweigeschossiger Bebauung und bereits hier wurde sowohl durch die Gebäude als auch durch die vielen Fahrzeuge die enorme soziale Schere deutlich, die in diesem Land wohl zum Alltag gehört. Wobei Krasnodar eindeutig den wohlhabenden Städten Russland zuzuordnen ist. Man konnte zudem erahnen, wie rasant diese Stadt in den vergangenen 20 Jahren gewachsen sein muss. Der abendliche Spaziergang ließ keinen Zweifel, mit Sonnenuntergang hatten sich die angenehmen 16 Grad Celsius schlagartig erledigt – ein guter Hinweis für den kommenden Abend.
Nach einem Hotel-Frühstück mit leider nur wenigen russischen Elementen blieb viel Zeit für einen ausgedehnten Fußmarsch durch Krasnodar. Anders als gewohnt gab es durch die nur wenigen mitgereisten Schalker keinen gemeinsamen Treffpunkt, an dem man die üblichen Verdächtigen hätte treffen können. Ebenso zogen viele es vor, die Stadt ohne Trikot und Schal zu erkunden – so auch wir. In der Schule einige Jahre Russisch gehabt zu haben, erwies sich insgesamt als durchaus hilfreich und hätte ich damals in der Schule etwas mehr Einsatz gezeigt, wäre vielleicht sogar eine richtige Kommunikation möglich gewesen. So bleibt als im Ergebnis zu vermerken: Russisches Eis ist wirklich so lecker, wie meine Lehrerin immer gesagt hat.
Der Russe baut „nach innen“, hinter einer unscheinbaren Doppeltür kann sich durchaus ein mehrgeschossiges Einkaufszentrum verbergen. Friedhöfe in Russland sind riesig und insgesamt – zumindest im Vergleich zum beeindruckenden Pendant in Mailand – kein allzu heimeliger Ort. Touristisch hat die prosperierende Metropole neben einer Reihe sehenswerter Kirchen nicht allzu viel zu bieten. Mit dem von einem Einkaufzentrum nahezu verdeckten hyperbolischen Schuchow-Turm (bitte selber googeln), ist man schon durch. Den eigentlichen Höhepunkt nicht nur in architektonischer Hinsicht sollten wir jedoch alle am Abend noch sehen und erleben dürfen. Sergei Galizki, Eigentümer der russischen Einzelhandelskette Magnit sowie im Jahre 2008 Gründer und Präsident des FK Krasnodar – er scheint unter den russischen Milliardären eher einer „der Guten“ zu sein – hat kürzlich ganz tief in seine sicherlich ausreichend gefüllten Taschen gegriffen und seinem Verein ein wahrhaft beeindruckendes Stadion in die Landschaft gesetzt.
Ich bin ehrlich. Bei Fußballreisen strebe auch ich oft nach nostalgischen Erlebnissen und freue mich, wenn es am Spielort die realistische Chance auf ein „knietief-im-Schlamm-stehen-Stadion“ gibt. Was wir jedoch in Krasnodar zu sehen bekamen, war der exakte Gegenentwurf im dennoch positivsten Sinne. Bereits im Vorfeld machten Mutmaßungen über eine Bausumme von umgerechnet bis zu einer Milliarde Euro die Runde, wobei in dieser Summe die beeindruckend dimensionierte Nachwuchsakademie wohl bereits enthalten war.
Der FC Schalke 04 hatte das Glück, das erste hier ausgetragene Pflichtspiel mit bestreiten zu dürfen. Der im klassischen Stil gehaltene Stadion-Neubau verfügt über lediglich 30.000 Plätze, wirkt von außen aber wesentlich größer. Im Innern gibt es nur feinste Materialien zu bestaunen. Geschmackvoll ausgesuchte Hölzer, hochwertiger Stein und viel Glas prägen den Stil des Bauwerks. Ich habe – so glaube ich – kein einziges Metallgeländer gesehen. Das eigentliche Highlight jedoch war die Anzeigetafel, der Videowürfel, die Multimedia … ja was eigentlich? Ein gigantisches 360-Grad-LED-Panel, das den Raum zwischen Oberrang und Dach vollständig umschließt und rundherum digital bespielt werden kann, man sitzt oder steht also im Innern der Leinwand. Wirklich überaus beeindruckend.
Fußball gespielt wurde dann auch noch. War das Stadion bei Anpfiff wegen eines wohl vollständigen Verkehrskollapses gerade einmal zu zwei Dritteln gefüllt, so gab es 15 Minuten nach Spielbeginn dann doch keinen einzigen freien Platz mehr. Wer freilich erst zu diesem Zeitpunkt eintraf, hatte das Wesentliche bereits verpasst. Tor für Schalke bereits in Minute zehn. Dass dieses nun ausgerechnet ein Ukrainer erzielte, wurde vom Publikum mit ausdrücklichem Missfallen bedacht.
Eine nicht unerhebliche Anzahl der Tickets war offensichtlich zuvor großzügig verteilt worden. Ganze Blöcke waren mit Angehörigen der russischen Armee oder auch Schulklassen der höheren Jahrgänge besetzt. Viele der Zuschauer hatten wohl bis dato nicht allzu vielen Fußballspielen beigewohnt. Dies wurde dadurch offenbar, dass die Lautstärke im Stadion immer dann dramatisch anstieg, wenn der Ball sich in die Schalker Hälfte bewegte und zwar unabhängig davon, ob dem ein Angriff von Krasnodar vorausging, oder es sich schlicht um einen Rückpass der Schalker gehandelt hat.
Ansonsten und wie gewohnt waren jedoch die gerade einmal 300 Schalker Anhänger durchgängig nicht zu überhören. Die erste Hälfte war eine klare Angelegenheit für S04, die zweite Hälfte war dies jedoch nicht. Nachdem nahezu jeder Blauweiße ab der 60. Minute mit der Schalke-Diät mehrere 1000 Kalorien abgebaut hatte, sehnten nun wirklich alle den Abpfiff herbei. Dieser kam dann auch in der 95. Minute, die Abwehr hielt tatsächlich bis dorthin stand und alles Weitere war pure Erleichterung. Was bleibt: Eine internationale Reise so wenig vergleichbar wie jede andere auch, ein zutiefst glücklicher Sohn und eine Ausreise, die in ihrer Ernsthaftigkeit der Einreise in gar nichts nachstand.