Damnatio memoriae

Julius Hirsch, einer der beiden jüdischen Nationalspieler des DFB

(ru) Am 24. März 1912 gastiert die deutsche Nationalmannschaft in den Niederlanden in Zwolle. Das lange Zeit als bestes Spiel der deutschen Nationalelf geltende Spiel endet 5:5. Im „Kicker“-Jahrbuch von 1941 wird von ihm nur als „der Halblinke“ gesprochen, wenn es um den Mann geht, der in jenem Spiel vier Treffer für Deutschland erzielt.Die Rede ist von Julius Hirsch, der bis 1914 mit Gottfried Fuchs das kongeniale Sturmduo des Karlsruher FV bildete. Jene vier Tore sollten die einzigen bleiben, die Hirsch im Nationalmannschaftsdress schoss. Gottfried Fuchs gelingt ebenfalls im Jahr 1912 beim olympischen Turnier das Kunststück, zehn Tore in einem Spiel zu erzielen (16:0-Sieg gegen Russland). Julius Hirsch führt 1914 als Kapitän Greuther Fürth zum Meistertitel. Mit dem Karlsruher FV wurden beide 1910 deutscher Meister, 1912 Vizemeister, sie nehmen im gleichen Jahr an der Olympiade in Stockholm teil.

Cover SCHALKE UNSER 54
SCHALKE UNSER 54

Im Jahr 1939 jedoch wird versucht, beide Namen aus der Geschichte zu tilgen – sowohl Hirsch als auch Fuchs fehlen im „Kicker-Bilderwerk“, einem Sammelalbum der Nationalspieler. Fuchs emigriert 1937 nach Kanada, Hirsch wird 1943 in Auschwitz ermordet. Beide waren die einzigen jüdischen Nationalspieler des DFB.

Anders als Fuchs erkennt der „Juller“ gerufene Julius Hirsch die für ihn drohende Gefahr zu spät. Er diente im 1. Weltkrieg als „Frontsoldat“ und erhielt das „eiserne Kreuz“ als Auszeichnung. Sein Bruder Leopold aber ließ in diesem Krieg als deutscher Soldat sein Leben. Vielleicht hielt Hirsch es aufgrund dieser Tatsachen nicht für möglich, dass sein Vaterland sich gegen ihn wenden könnte.

„Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene deutsche Juden gibt“, schreibt der als politisch konservativ eingeschätzte Hirsch an „meinen lieben KFV“ 1933 in seinem Kündigungsschreiben, mit dem er seinem Ausschluss nach 31-jähriger Mitgliedschaft zuvor kommt.

Nachdem mit der Arisierung 1933 20.000 Juden aus allen Sportverbänden ausgeschlossen wurden, durften dennoch jüdische Vereine im Hinblick auf die Olympiade 1936 in Berlin und der Inszenierung Deutschlands als „freiliebender Nation“ weiter bestehen bleiben. Hirsch fungiert 1934 als Trainer beim jüdischen Turnklub Karlsruhe 03, dem er zur badischen Meisterschaft verhilft. Der Klub ist organisiert im Sportbund Schild, einem Verband jüdischer Frontkämpfer, die Deutschland weiter als ihr Vaterland ansehen und nicht an Auswanderung denken.

Im Laufe der Zeit verliert Hirsch seine Arbeit, darf die Sportstätte „seines“ KFV nicht mehr betreten, wie alle anderen jüdischen Vereine wird auch der TK Karlsruhe 1938 aufgelöst, der gelernte Kaufmann wird zum Verrichten niederer Arbeit gezwungen und muss sich „Julius Israel Hirsch“ nennen lassen; Menschen, die ihm früher zugejubelt haben, wechseln die Straßenseite, wenn sie ihm begegnen – im November 1938 wird er nach einem gescheitertem Selbstmordversuch wegen Depressionen in eine psychiatrische Klinik in Frankreich eingeliefert. Er lässt sich zu deren Schutz von seiner evangelischen Ehefrau scheiden.

Am 1. März 1943 wird Julius Hirsch nach Auschwitz deportiert. Am Karlsruher Hauptbahnhof will ihm ein Zugführer, ein alter Freund, zur Flucht verhelfen. Hirsch hält es noch immer nicht für möglich, als ehemaliger Frontkämpfer und berühmter Nationalspieler für Deutschland durch seine eigenen Landsleute in Lebensgefahr zu schweben. Er lehnt ab. Im Mai 1943 stirbt Julius Hirsch in Auschwitz. Seine Kinder werden als „Mischlinge ersten Grades“ ebenfalls ins Konzentrationslager deportiert – sie überleben. Das letzte Lebenszeichen von Hirsch bleibt eine Postkarte vom 3. März 1943 an seine Tochter Esther.

1939 geschah die „Ausmerzung“ jüdischer Namen aus den Annalen auf Befehl des Propagandaministeriums. Die Zeilen in der offiziellen DFB-Geschichte der 50er Jahre „Unseren Toten zum Gedächtnis“, die aussagen, Julius Hirsch sei „im Getto“ gestorben, sowie die fehlende Erwähnung von Hirsch und Fuchs in dem Band zum 100-jährigen Bestehen des Süddeutschen Fußball-Verbandes sind auf Geschichtsvergessenheit oder mangelndes Bewusstsein für die Vergangenheit zurückzuführen. Eben diesen Vorwurf musste sich der DFB gefallen lassen, vor allem als er 1988 in einem Reprint des „Kicker-Bilderwerks“ von 1939 die erneute Ausblendung beider jüdischer Nationalspieler zuließ.

Die Verleihung des Julius-Hirsch-Preises seit 2005 setzt ein Zeichen für die nunmehr offensivere und ehrliche Auseinandersetzung des DFB mit der Vergangenheit und honoriert den „Einsatz für Toleranz und Menschenwürde, gegen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“.

Nach Julius Hirsch sind überdies eine Sporthalle der Gemeinde Pfinztal und Sportplätze am Eichkamp in Berlin benannt. Der Kölner Künstler Gunter Demnig hat handtellergroße Plaketen ebenerdig im Bürgersteig verlegt, sogenannte „Stolpersteine“. Einer davon liegt in Achern, der Heimatstadt von Julius Hirsch – auf ihm steht: „Hier wohnte Julius Hirsch, Jg. 1892, 1943 deportiert nach Auschwitz, ermordet in Auschwitz.“