(ars/rk) Neulich beim Torwarttraining: Jens Lehmann, Jörg Albracht, Mathias Schober und Torwart-Trainer Michael Stahl quälen sich durch den tiefen Schnee. Dann machen die Torhüter eine Wette: Wer die meisten Tore reinbekommt, muß den anderen einen Salat ausgeben. Im Interview mit SCHALKE UNSER war Jens Lehmann nicht ganz so spontan. Deutschlands derzeitige Nummer Eins präsentierte sich uns eher zurückhaltend und vorsichtig.
SCHALKE UNSER:
Jens, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Wahl zum besten Torwart der Hinrunde. Laut „Kicker“ haben die meisten Fuballprofis der Bundesliga bei der Abstimmung deinen Namen genannt. Wie fühlt man sich denn als Branchenführer?
JENS LEHMANN:
Da habe ich mich natürlich sehr gefreut, schließlich hat die kompetenteste Jury überhaupt abgestimmt.
SCHALKE UNSER:
Leider entscheidet diese Jury ja nicht darüber, wer in der Nationalmannschaft spielt. Hat Berti Vogts sich denn mal wieder nach dir erkundigt?
JENS LEHMANN:
Nein. Ich spiele in erster Linie für Schalke, versuche hier meine beste Leistung zu bringen. Alles andere kann ich nicht beeinflussen.
SCHALKE UNSER:
Ist es nicht doch etwas merkwürdig, wenn Berti Vogts dir sogar Stefan Klos und Dirk Heinen vorzuziehen scheint?
JENS LEHMANN:
Die Qualitäten, die ich hab‘, müssen andere erst einmal haben. Deswegen mache ich mir in punkto Nationalmannschaft vorerst überhaupt keine Gedanken.
SCHALKE UNSER:
Vom DFB wurdest du ja bereits 1992 sehr enttäuscht, als Hannes Löhr dich ohne Angabe von Gründen aus dem Kader für die Olympischen Spiele in Barcelona gestrichen hat …
JENS LEHMANN:
… Ja, das wäre ein schönes Ziel gewesen. Ich sollte eigentlich beim letzten Qualifikationsspiel gegen Schottland eingesetzt werden. Hannes Löhr wollte mir aufgrund der besseren Strafraumbeherrschung eigentlich den Vorzug vor Stefan Klos geben, hat dann aber doch den Stefan gebracht. Ist natürlich ärgerlich, denn so etwas wie die Olympischen Spiele ist etwas Einmaliges im Leben.
SCHALKE UNSER:
Zurück auf Schalke. Ihr habt seit dem letzten Sommer einen neuen Torwart-Trainer, Michael Stahl. Zahlt sich das Training schon aus, kann man Fortschritte erkennen?
JENS LEHMANN:
Offiziell ist der Michael zwar erst seit dem Sommer bei Schalke, ich arbeite allerdings schon zweieinhalb Jahre mit ihm zusammen. Er hat Sport studiert und so lernt man bei ihm auch viel vom Trainingsaufbau. Vorher hatten wir den Jupp Koitka, aber das ging ja nicht lange gut.
SCHALKE UNSER:
Ein neuer Torwart-Trainer macht noch lange keinen neuen Vertrag. Was hat bei dir den Ausschlag gegeben, beim FC Schalke zu verlängern? Es soll ja auch Kontakte zu anderen Clubs gegeben haben.
JENS LEHMANN:
Nun, zunächst einmal bin ich Profi, muß also sehen, daß ich mein Geld verdiene. Außerdem gibt es nur fünf oder sechs Vereine, die ganz gute Perspektiven haben in Deutschland, die auch in den nächsten zwei, drei Jahren oben mitspielen werden. Das sind Bayern, Dortmund, Stuttgart, Mönchengladbach, Leverkusen und Schalke. Und mit Vereinen wie Leverkusen, Mönchengladbach oder auch Werder Bremen, finde ich, kann Schalke mindestens konkurrieren. Dortmund und Bayern, was sicherlich eine große sportliche Steigerung gewesen wäre, suchen halt momentan keinen Torhüter.
SCHALKE UNSER:
Und die Fans? Sind die ein Argument für das Bleiben auf Schalke? Oder im Gegenteil – Stichwort Leverkusen: Bei dem 1:5 bei Bayer vor drei Jahren wurdest du gnadenlos von den Fans ausgepfiffen, wurdest zur Halbzeit ausgewechselt und bist dann allein mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Heute jubeln dir die Fans wieder zu, fordern für dich einen Platz in der Nationalelf. Eigentlich müßtest du doch ein ambivalentes Verhältnis zu den Schalker Fans haben?
JENS LEHMANN:
Sicherlich bin ich einer derjenigen, der schon die Extreme erlebt hat, und sicherlich hatte ich damals auch einen Teil Schuld. Mittlerweile habe ich meines Erachtens wieder ein gutes Verhältnis zu den Fans. Generell meine ich: Schalke wird auch nur durch die Fans zu dem was es ist. Wenn die uns auch auswärts nicht immer so zahlreich unterstützen würden, dann wär‘ Schalke nicht Schalke – trotz Tradition. Das muß ich schon sagen. Die Erfolge von damals, das ist ja alles schön und gut, aber auf Dauer kann auch das seinen Reiz verlieren. Wichtig ist: Ich muß gute Leistungen bringen, sonst schlägt auch mein gutes Verhältnis zu den Fans schnell wieder ins Gegenteil um.
SCHALKE UNSER:
Jörg Berger hat einmal gesagt, daß das Parkstadion uns in einer Saison drei bis vier Punkte kostet, da die Stimmung nur sehr schwer von den Rängen auf das Feld übertragen wird. Wie siehst du das, als jemand, der mittendrin steht?
JENS LEHMANN:
Ja, das macht schon viel mehr Spaß bei Auswärtsspielen, wo die Fans ganz nah dran sind. Im Parkstadion ist es so, daß die Stimmung erst bei 35 – 40 000 Zuschauern anfängt, gut zu werden. Ich muß auch sagen, daß es ein Kriterium für meine Vertragsverlängerung war, daß dieses neue Stadion tatsächlich gebaut wird. (Anm. d. Red.: Wird es das? Wirklich?)
SCHALKE UNSER:
Als beim Blitzturnier in Bochum Haßgesänge gegen Dortmund aufkamen, hast du versucht, beschwichtigend auf die Fans einzuwirken.
JENS LEHMANN:
Ja, das kann ich nicht verstehen. Die Fans stehen da zehn Meter auseinander im gleichen Block und schreien „Ihr Schweine, ihr Dortmunder Schweine!”. Da kann man doch auch was anderes rufen, man muß doch nicht gleich beleidigend werden. Ich fand das eigentlich auch eine ganz gute Idee, beide Fangruppen auf eine Tribüne zu stellen. Man hätte das doch auch so wie in England machen können, daß die einen irgend etwas rufen und die anderen dann darauf antworten, wie gesagt, ohne dabei beleidigend zu werden. Dann geht man hinterher nach Hause und denkt, leiden können wir uns zwar nicht, aber wir hatten alle Spaß.
SCHALKE UNSER:
Nun zu unserem Lieblingsthema UEFA-Cup. Du warst so ziemlich der einzige, der bereits frühzeitig dieses ominöse Wort in den Mund genommen hat. Warum eigentlich nur Du?
JENS LEHMANN:
Vielleicht wurden die anderen auch nicht danach gefragt. Bei mir war es ja auch so, daß mein Vertrag auslief, und so kam dann bei den Journalisten auch immer die Frage nach meinen Perspektiven auf. Das ist ja auch nicht so unrealistisch, wenn man gerade einmal einen Punkt dahinter steht, dann kann man sich schon mal solche Ziele setzen.
SCHALKE UNSER:
Wie war daraufhin die Reaktion bei Mannschaft und Trainer?
JENS LEHMANN:
Innerhalb der Mannschaft weiß ich, daß einige genauso denken. Aber einige reichen nicht. Ich finde, daß eigentlich jeder in der Mannschaft so denken sollte! Der Trainer gibt bei uns die Marschrichtung aus und da weiß ich nicht, wie er das bewertet hat. Aber ich setz‘ mir das Ziel ‚UEFA-Cup‘ natürlich schon.
SCHALKE UNSER:
Du giltst als sehr ehrgeizig. Vor dem Spiel gegen St. Pauli brachten wir das neue SCHALKE UNSER in die Kabine und sprachen dich an. Du bist daraufhin ziemlich ausgerastet und hast total geschrien.
JENS LEHMANN:
Das kann schon gut sein. Schon lange vor dem Warmmachen beginne ich, mich voll auf das Spiel zu konzentrieren. Da darf mich dann auch niemand mehr ansprechen, und wer’s dann doch macht, der hat halt Pech gehabt. Es gibt Training und das Spiel, das ist unsere Arbeit und da möchten wir dann auch nicht gestört werden.
SCHALKE UNSER:
Für dich gibt’s aber noch mehr als Training und Spiel. Neben deinem Job im Profifußball studierst du auch noch Volkswirtschaft an der Universität in Münster. Wie läßt sich das denn zeitlich miteinander vereinbaren?
JENS LEHMANN:
Naja, da wo andere drei oder vier Scheine pro Semester machen, kann ich halt nur einen machen. Ich bin sozusagen ‚Teilzeitstudent‘. Aber ich betreibe das dennoch mit dem nötigen Ernst. So wie ich Zeit habe, besuche ich auch die Vorlesungen.
SCHALKE UNSER:
Es gibt Spieler wie Frank Mill oder Rudi Völler, die ohne akademische Ausbildung ihr Glück als Manager probieren wollen. Macht das deiner Meinung nach Sinn? Und könntest du dir auch vorstellen, mit einem Diplomabschluß im Fußball-Management zu arbeiten?
JENS LEHMANN:
Da gibt es sicherlich gute Perspektiven. Es ist auch kein Nachteil, wenn man vorher selbst gespielt hat. Aber damit allein ist es wohl nicht getan. Wenn man sich Manager wie Hoeneß oder Rüßmann anschaut, dann sind das sehr gebildete Leute. Ohne die nötige Bildung heißt man vielleicht Manager, ist aber in Wirklichkeit nichts anderes als Spielerbeobachter. Aber das ist Zukunftsmusik, ich werde mich erstmal auf das Fußballspielen konzentrieren …
SCHALKE UNSER:
… das vielleicht bald ganz anders funktionieren wird. Die FIFA veröffentlicht zur Zeit fast täglich eine mögliche Regeländerung. Was ist denn deine Meinung zu dem Vorschlag, daß die Tore vergrößert werden sollen?
JENS LEHMANN:
Ich find‘ das toll! Ich hab zwar auch erst gesagt, ich find’s blöd, aber im Nachhinein find ich’s richtig gut. Aufgrund meiner Größe kann mir das eigentlich nur Vorteile bringen.
SCHALKE UNSER:
Und deine Meinung zum Bosman-Urteil?
JENS LEHMANN:
Ich finde es grundsätzlich gut, daß man sich als Spieler keinem Ablösezwang mehr unterwerfen muß. Andere Arbeitnehmer haben schließlich auch das Recht, frei durch Europa zu tingeln. Man sollte das Urteil aber nicht nur auf die EU begrenzen, sondern Spielertransfers generell ablösefrei handhaben.
SCHALKE UNSER:
Du hast Dich ja bisher als einziger Schalker Torwart der Bundesligageschichte in die Torschützenliste eintragen können.
JENS LEHMANN:
Ich werde immer wieder daran erinnert, daß ich schon mal ein Tor geschossen habe. Dann denke ich immer „Mann, wann soll ich denn ein Tor geschossen haben?” Aber damals war es ja der Elfmeter gegen 1860 beim 6:2-Sieg. Bei einem Stand von 1:1 hätte ich aber wirklich nur geschossen, wenn sich niemand anderes zur Verfügung gestellt hätte.
SCHALKE UNSER:
Also doch nicht Lehmann in den Sturm? Wolltest du immer schon Torwart werden?
JENS LEHMANN:
Früher habe ich auch einmal Stürmer gespielt, aber heute bin ich da wohl zu langsam für. Mich könnten ’se nur vorne reinstellen.
SCHALKE UNSER:
Vielen Dank für das Interview, Glückauf und viel Erfolg.