(rk) Zwischen Gelsenkirchen-Ückendorf und dem Fußball-WM-Ausrichter Katar liegen 8000 Kilometer Luftlinie. Doch am 23. September kam die katarische Wirklichkeit spürbar nah, als drei Arbeitsmigranten aus erster Hand von den Bedingungen auf der arabischen Halbinsel am Persischen Golf berichteten.
„Boycott Qatar“ prangte als Banner über der Bühne im Saal des Wissenschaftsparks, als mehr als 100 Interessierte zu der Veranstaltung in den Wissenschaftspark kamen, zu der Schalker Fanprojekt, Schalker Fan-Initiative und Anno 1904 eingeladen hatten. Auf der Bühne berichteten sodann drei Arbeitsmigranten aus Nepal und Kenia von den schier unfassbaren Bedingungen auf den Baustellen in Katar.
Mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW waren sie nach Deutschland gereist, um von ihren Erfahrungen aus dem sogenannten Kafala-System zu berichten: Malcolm Bidali, ehemaliger migrantischer Arbeiter in Katar und Mitgründer von Migrant Defenders (Kenia), Jeevan KC und Krishna Shrestha, migrantische Arbeiter aus Nepal und Mitbegründer des Migrant Workers Network sowie Binda Pandey, Abgeordnete im nepalesischen Parlament.
Das Kafala-System führt die Arbeitsmigranten, die häufig aus Bangladesch, Indien, Nepal, Philippinen, Pakistan oder aus Ostafrika kommen, in ein sklavenähnliches Abhängigkeitsverhältnis. Bis zu Reformen im Jahr 2020 erlaubte das Kafala-System den Firmen, ihren Angestellten den Wechsel des Arbeitgebers oder das Verlassen des Landes zu verbieten. So zogen Arbeitgeber teilweise die Pässe ihrer Angestellten ein und händigten sie erst bei Vertragsende wieder aus.
Die Unterbringung war prekär. Zum Teil mussten die Arbeiter mit zwölf Personen auf engstem Raum leben. Von gesetzlicher Krankenversicherungspflicht kann keine Rede sein. Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche, bei über 40 Grad und direkter Sonneneinstrahlung, quasi nicht vorhandener Arbeitsschutz und gleichzeitig ein Verbot zur Gründung von Betriebsräten.
Während des Baus der WM-Stadien von Katar sind unter diesen brutalen Zuständen mehr als 6500 Arbeitsmigranten bei Arbeitsunfällen gestorben. Die Umsetzungen der Reformen werden kaum kontrolliert, vieles läuft daher einfach genauso weiter, berichtete Binda Pandey vom nepalesischen Gewerkschaftsdachverband GEFONT.
Das Land profitiert von seinen riesigen Erdgas- und Erdölvorkommen. Diesen verdankt Katar auch eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte pro Einwohner der Welt, mit 96.200 US-Dollar pro Einwohner. Doch bei den Arbeitsmigranten kommt davon nicht viel an. Im August 2020 legte das Emirat einen monatlichen Mindestlohn in Höhe von 1000 Riyal (etwa 230 Euro) für Arbeitsmigranten fest. Vorher verfügte Katar über keinen Mindestlohn für Arbeitsmigranten. Über diese katastrophalen Arbeitsbedingungen berichtete Malcolm Bidali in einem Blog. Er schrieb seine Texte, machte Fotos und brachte sie ins World Wide Web. Doch rief dies auch den katarischen Geheimdienst auf den Plan, der Malcolm festnahm und ins Gefängnis in Isolationshaft sperrte. Malcolm Bidali habe „falsche Nachrichten mit der Absicht, das öffentliche System des Staates zu gefährden” verbreitet und veröffentlicht. Er wurde daraufhin angeklagt, nur weil er seine Meinung geäußert hatte.
„Fehlende Konventionen für Menschenrechte, Ausbeutung der Arbeitsmigranten, Korruption, Homophobie – diese WM in Katar ist in allen Belangen eine Unrechts-WM”, konstatierte Dr. Susanne Franke von der Schalker Fan-Initiative auf der Bühne. Darüber war man sich auch im Publikum einig. Die Frage ist nur: Was kann man dagegen tun? Denn leider hatten angefragte Funktionäre und Verantwortliche abgesagt: „Es war niemand zu kriegen. Das war ziemlich enttäuschend. Auf Schalke hatten auf unsere Nachfragen für diesen Abend alle keine Zeit, so schlicht und einfach muss man das leider benennen“, sagte Dr. Susanne Franke.
Es sei aber vor allem wichtig, mit betroffenen Menschen über die Bedingungen in Katar zu reden, und nicht nur über diese Menschen, so der Vorsitzende des „Zentrums für Menschenrechte und Sport e.V.”, Jonas Burgheim bei der anschließenden Podiumsdiskussion. Auch seien Solidaritätsbekundungen und Unterstützungen für entsprechende Organisationen, die sich für eine Verbesserung der Bedingungen von Arbeitsmigranten einsetzen, wichtig.
Der Bogen wurde von Katar nochmal zurück nach Gelsenkirchen gespannt. Stimmen aus dem Publikum brachten auch hier mit der Gründung des Schalker Betriebsrats, der Causa Tönnies oder auch Sexismus Themen hervor, die zeigten, dass man auch auf Schalke noch vor der eigenen Türe kehren muss – oder wie es der Moderator Hubertus Koch sagte: „Think global, act local.”
Zwei Tage nach der Veranstaltung hatte die Sport1-Sendung „Doppelpass” das Thema „WM in Katar”. Uli Hoeneß rief dort an und ließ sich in die Diskussionsrunde durchstellen: „Die WM und das Engagement des FC Bayern und andere Sportaktivitäten in der Golfregion werden dazu führen, dass die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter dort besser und nicht schlechter werden. Das sollte man endlich mal akzeptieren und nicht ständig auf die Leute draufhauen.”
Malcolm Bidali und Uli Hoeneß haben gemeinsam, dass sie mal im Gefängnis gesessen haben. Der eine wegen Steuerhinterziehung, der andere, weil er seine prekäre Arbeitssituation in einem Blog geschildert hat.