(rk) Mit Eichberg war es aus. Geflüchtet nach Florida hinterließ er einen Schuldenberg auf Schalke, dessen Ausmaß niemand wirklich hat einschätzen können. Belege über Rechnungen und Geldeingänge waren unter dem „Sonnenkönig“ verschütt gegangen. Schalkes Buchhalter stocherten im Nebel.
Derweil wurden die Weichen für die Zukunft gestellt: Rudi Assauer erhielt drei Tage vor dem Heiligen Abend – nach hausinternem Krach im Vorstand – einen Vertrag bis 1996. Der Weihnachtsfriede schien wieder einzukehren.
Und auf einmal wollten alle Geld von Schalke: Die ehemaligen Schalker Spieler Thomas Zechel, Günter Schlipper und Thorsten Wörsdörfer sowie der frühere Co-Trainer Jupp Koitka und der einstige Geschäftsstellenleiter Ralf Brinkmann hatten vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen geklagt. Der inzwischen beim 1. FC Saarbrücken unter Vertrag stehende Zechel, der 1990/91 zwanzig Spiele für den damaligen Zweitligisten Schalke 04 bestritt, hat seinen ehemaligen Klub auf Zahlung einer Aufstiegsprämie von 20.000 Mark verklagt. Außerdem wollte Zechel noch Urlaubsgeld. Um Urlaubsgeld ging es auch bei der Klage Schlippers, der Schalke auf Zahlung von 26.500 Mark verklagt hatte, Wörsdörfer verlangte für 1991 ein Urlaubsgeld in Hohe von 8500 Mark.
Der im Oktober 1993 beurlaubte Koitka hatte die ihm laut Vertrag zustehenden Prämien von 1500 Mark pro Punkt vor Gericht geltend gemacht. Diese Prämie, die nach Koitkas Rechnung bisher 15.000 Mark betrug, stünde dem einstigen HSV-Torwart laut Vertrag auch noch bis zum Saisonende zu. Geschäftsführer Brinkmann klagte gegen die von Schalke ausgesprochene fristlose Kündigung.
Der Fleischer
Kein einfacher Job für den neuen Mann an der Spitze des Vereins, der erst einmal noch gefunden werden musste. Günter Siebert, Klaus-Dieter Koslowsky, Dr. Peter Paziorek, Walther Seinsch, Evelyn Fricke und Bernd Tönnies hießen die möglichen Kandidaten. Doch zu Gunsten von Bernd Tönnies zogen alle – bis auf Evelyn Fricke, der kaum Chancen eingeräumt wurden – ihre Kandidatur zurück. Der Weg schien frei für den Wurstfabrikanten. Bernd Tönnies führte die Firma mit seinem Bruder Clemens, besaß zwei Schlachthöfe, 8.000 Schweinen machte er täglich den Garaus.
Doch ein Problem musste noch aus dem Weg geräumt werden: Bernd Tönnies war noch kein ganzes Jahr Mitglied im Verein und durfte daher per Satzung gar nicht als Vorsitzender gewählt werden. Also musste die Satzung zu Beginn der Jahreshauptversammlung am 7. Februar 1994 zunächst mit Zweidrittelmehrheit geändert werden („Lex Tönnies“). Nach zweistündiger Diskussion war die Satzungsänderung bei der außerordentlichen Jahreshauptversammlung des FC Schalke 04 beschlossene Sache. Mit großer Mehrheit und per Akklamation stimmten die Mitglieder dem Antrag des Verwaltungsrates zu.
Damit war um 21:17 Uhr der Weg für die Wahl des 41 Jahre alten Fleischfabrikanten Bernd Tönnies („Jedes zwölfte Kotelett, das in Deutschland auf den Tisch kommt, stammt aus meinem Unternehmen“) zum Schalker Präsidenten geebnet.
Um 21:35 Uhr war Tönnies dann mit überwältigender Mehrheit als Club-Chef gewählt. Sichtlich erleichtert ging Tönnies in Jubelpose ans Podium, begeistert gefeiert von den Schalker Mitgliedern, die anschließend Gesänge anstimmten. Vor seiner Wahl hatte Tönnies ein „leichtes Kribbeln im Bauch“ verspürt. In seiner Vorstellungsrede betonte der neue Schalker Präsident: „Ich habe das Kandidatsein sehr ernst genommen, habe mit Bankiers gesprochen und diese gefragt, ob sie an die Ertragskraft des FC Schalke 04 glauben.“
Für die Zukunft richtete er den Appell an die Fans und an den Verein: „Wir brauchen Freundschaft innerhalb des FC Schalke 04, nur so können wir erfolgreich arbeiten.“ Im kleineren Kreis wiederholte Tönnies, was er schon vorher gesagt hatte: „Ab Dienstag ist die Krise des FC Schalke 04 zu Ende.“ Die ersten Schritte des neuen Schalker Präsidenten führten zur Bank, wo er mit seiner Unterschrift dafür sorgte, dass der hochverschuldete Verein (13,6 Millionen Mark Verbindlichkeiten) durch einen neuen Kredit von 1,85 Millionen wieder etwas mehr „Luft“ bekam. Tönnies, der als harter Arbeiter galt, wollte den Verwaltungsrat künftig um einen Banker, einen Steuerberater (Jupp Schnusenberg) und einen Unternehmer erweitern.
Nach der Versammlung, die insgesamt von rund 3.500 Menschen (3.006 Mitglieder) besucht worden war, blieben Zweifel, ob die Wahl von Tönnies erfolgreich angefochten werden könnte. Zwar betonten Tönnies und das offizielle Schalke, nach Rücksprache mit Juristen sei die Verfahrensweise korrekt, doch der ehemalige Vereinspräsident, Rechtsanwalt Dr. Karl-Heinz Hütsch, stand mit seiner Meinung nicht allein, weil nach dem Vereinsrecht die Satzungsänderung erst ins Register eingetragen werden müsse, ehe der neue Präsident gewählt werden könne.
Der Dialyse-Patient
Schalke hatte einen Neuanfang – und das war wohl das wichtigste überhaupt. Vielleicht war es auch ganz gut, einen Mann an der Spitze zu haben, der das Geschehen um den Verein objektiver beurteilen konnte, als etwa ein Günter Siebert, der immer mit all seinen Emotionen an diesem Verein hing.
Wenn Tönnies seine Meinung durchsetzen wollte, nahm er kein Blatt vor den Mund – kein Wunder, dass auch Manager Rudi Assauer zwischendurch mit Tönnies aneinander geriet, besonders, als der Präsident Trainer Jörg Berger wegen einer unglücklichen Äußerung („Auf Schalke ist alles möglich“) abmahnte. Zwar brodelte es hinter den Kulissen weiter gewaltig, aber die größten Klippen wurden umschifft. Schalke schaffte mit „Feuerwehrmann“ Jörg Berger tatsächlich den Klassenerhalt, und auch den befürchteten Lizenzentzug konnte Schalke umdribbeln. Eine Geldstrafe in Höhe von 500.000 Mark war quasi die Mindeststrafe und eine Belohnung für die intensive Überzeugungsarbeit, die Schalkes Funktionäre zwischen dem Herbst 1993 und dem Sommer 1994 beim DFB leisteten.
Bernd Tönnies konnte sich weder über den Klassenerhalt noch über die Lizenz oder über die Rückkehr von Olaf Thon richtig freuen. Der Gesundheitszustand von Dialyse-Patient Tönnies hatte sich dramatisch verschlechtert, am 1. Juli 1994 starb Schalkes Präsident im Alter von nur 42 Jahren an den Folgen einer Nieren-Transplantation. Schalke trauerte.
„Gegen Dortmund haben wir uns noch nicht einmal umgezogen“
Tönnies hatte sich viele Sympathien erworben, weil er in einer extrem kritischen Situation das Ruder übernommen hatte. Als die Tränen getrocknet waren, begann die Suche nach einem neuen Präsidenten. Die aktuelle Vereinsführung wollte endlich Stabilität in den Club bekommen. An den Schreibtischen wurde an einer Satzungsänderung gearbeitet, für die Volker Stuckmann als Präsidentschafts-Kandidat werben sollte. Ein Gegenkandidat auf der Jahreshauptversammlung am 12. September 1994 im Sportparadies war Helmut Kremers. Aber die Wahl von Stuckmann galt praktisch als sicher.
Doch wie so oft: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Stuckmann hatte am Mikrofon nicht seinen besten Tag erwischt, seine Aussage, dass Schalke demnächst „im stillen Kämmerlein“ geführt werden soll, nahmen ihm die Mitglieder übel. Helmut Kremers hingegen gewann die Schalker Herzen durch den legendären Satz: „Wenn wir früher gegen Dortmund gespielt haben, haben wir uns dafür nicht mal umgezogen.“ Als die Stimmen ausgezählt wurden, stand Schatzmeister Rüdiger Höffken, Mitglied des Stuckmann-Teams, kreidebleich neben dem Podium: „Das geht schief.“ Es ging schief – aus Höffkens Sicht. Kremers erhielt 1.129 Stimmen, Stuckmann 739. Kremers war total überraschend neuer Präsident – ein gefundenes Fressen für die anwesende Medienschar. Im WDR-Radio wurde die Jahreshauptversammlung live übertragen, das WDR-Fernsehen schaltete sich später hinzu.
Helmut Kremers hatte wohl selbst nicht mit seiner Wahl gerechnet. Jedenfalls stand er tatsächlich ohne ein vollständiges Team da. Neben Jürgen Wennekers berief der neue Vorsitzende Hans-Kleine Büning in seine Vorstandsmannschaft, der nach eigenen Aussagen zu diesem Posten kam „wie die Jungfrau zum Kinde“. Die Schalker Emotionen hatten mal wieder alle sachlichen Argumente beiseite gefegt. Als Helmut Kremers zum Abschluss der Veranstaltung „Blau und weiß wie lieb ich dich“ anstimmen wollte, begannen die Mitglieder zu singen „Wir scheißen auf den BVB“. Normal ist das wohl nicht. Auf der „Siegesfeier“ im Schloss Berge war die Atmosphäre eisig, als Kremers und Vize-Präsident Wennekers anschließend den Saal betraten – den hatte nämlich die „Gegenpartei“ gebucht. Nach der Wahl von Kremers begann „auf Schalke“ ein Hauen und Stechen, das Seinesgleichen suchte.
Hauen und Stechen
Großes Theater wurde geboten: Die Zusammenarbeit mit dem Kremers-Team und der Führungs-Crew um Rudi Assauer funktionierte nicht. Zunächst sorgten zwei (!) Managerverträge für Helmut Kremers für Irritationen. Ein Kontrakt enthielt den Passus einer automatischen Vertragsverlängerung zum 30. Juni 1994 für ein weiteres Jahr. In diesem Fall hätte sich Kremers gar nicht zur Wahl stellen dürfen, da hauptamtliche Mitarbeiter nach der Satzung nicht dem Vorstand angehören durften.
Dann genehmigte der Vorstand gegen den Willen von Rudi Assauer und Geschäftsführer Peter Peters eine üppige Abfindungszahlung an den der Hinterziehung beschuldigten ehemaligen Geschäftsführer Ralf Brinkmann – zwischen ihm und Kremers bestanden geschäftliche Beziehungen wie sich später herausstellte. Zudem drohten einen Tag nach der Mitgliederversammlung Bürgen mit der Rücknahme ihrer Sicherheiten.
Misstrauen regierte, beide Seiten versuchten, die Medien zu instrumentalisieren, um die interne Konkurrenz „abzugrätschen“. Das Verhältnis Assauer/Kremers war nicht mal eine Zweckgemeinschaft. Am 23. Oktober 1994 überschlugen sich die Ereignisse. Drei Pressekonferenzen gab es innerhalb von zwei Stunden, die einen Tiefpunkt in der Clubhistorie darstellten. Auf der ersten Pressekonferenz hatte zunächst der Schalker Verwaltungsrat scharfe Angriffe in Richtung des Vorstandes formuliert und forderte diesen auf, umgehend zurückzutreten, damit auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung ein neuer Vorstand gewählt werden könne. Verwaltungsrats-Vorsitzender Jürgen Möllemann: „Der Vorstand hat die finanzielle Lage des Vereins nicht in den Griff bekommen.“ Das war heftig und die Journalisten orderten schnell Telefone, um ihre Redaktionen zu verständigen.
Doch es kam noch schlimmer. Danach folgte auf der zweiten Presskonferenz der Auftritt des Vorstandes mit Helmut Kremers und Jürgen Wennekers, die Möllemann als „Totengräber des Vereins“ klassifizierten und ihn ein „politisches Auslaufmodell“ nannten, „der nur sein persönliches Ego befriedigen wolle.“ Kremers räumte zwar finanzielle Schwierigkeiten ein, der Club sei aber „grundsätzlich wirtschaftlich gesund.“
Damit war eine der schlimmsten Schlammschlachten des Vereins eröffnet, die noch um eine Entscheidung erweitert wurde. Nebenbei gab Jürgen Wennekers noch die Beurlaubung von Assauer wegen angeblicher privater finanzieller Probleme bekannt. Assauer kickte zu dieser Zeit noch mit dem Profikader, was er sonntags öfter tat. Schalke hatte einen Tag zuvor 1:1 in Uerdingen gespielt, doch das interessierte niemanden mehr. Nach dem Trainings-Spiel stellte sich Assauer unrasiert in Adiletten und mit der obligatorischen Zigarre den Journalisten. Er bestätigte einen Pfändungsbeschluss, der aber längst erledigt sei und von dem Kremers gewusst habe. Durch die unrechtmäßige Veröffentlichung privater Angelegenheiten von Manager Assauer befand sich dessen „Arbeitgeber“ nun in der Defensive.
Die Spieler wurden danach von den Journalisten informiert und waren perplex. Vor allem die Beurlaubung von Assauer stieß auf Kritik. Gleichzeitig machte Assauer die organisierten Schalke-Fans mobil. Zu Hunderten versammelten sie sich vor der Geschäftsstelle und forderten in Lynchstimmung den Kopf von Helmut Kremers: „Hängt ihn auf!“ Hinter den Kulissen ging die Diskussion weiter. Der Verwaltungsrat forderte die Wiedereinstellung von Assauer, den Rücktritt des Vorstands und eine außerordentliche Mitgliederversammlung zum Zwecke der Verabschiedung einer neuen Satzung.
Für den Nachmittag wurde eine weitere Pressekonferenz einberufen, weil bereits eine Heerschar von Medienvertretern vor der Geschäftsstelle wartete, um die Ergebnisse der „Elefantenrunde“ zu erfahren. Kremers wies Peter Peters an, eine Presseerklärung zu formulieren. Peters machte sich an die Arbeit, verfasste aber eine Version mit dem ursprünglichen Ansinnen. Erst mit Beginn des Pressegesprächs übergab er Kremers den Zettel. Ohne sich den Inhalt durchgelesen zu haben, trug Kremers vor. Die Folge: Kremers verlas sein eigenes „Todesurteil“. Der Vorstand war aus dem Amt und bildete nun mit dem Verwaltungsrat bis zur außerordentlichen Mitgliederversammlung ein Übergangsgremium.
Der Weg war frei zur „Mustersatzung“. Helmut Kremers hatte sich selbst abserviert, da flatterte neues Unheil ins Schalker Haus. Das ARD-Polit-Magazin „Kontraste“ erhob schwere Vorwürfe gegen Rudi Assauer, es ging um Anlagebetrug im großen Stil. Mehr erfahrt Ihr in der kommenden Ausgabe des SCHALKE UNSER.