(dol/usu) Nach drei Jahren waren wir wieder in der Praxis von Dr. Thorsten Rarreck. Sie war immer noch gemütlich und er wirkte entspannter und jünger als bei unserem letzten Besuch. Wir sprachen in lockerer Atmosphäre über Verletzungen, Schmerzmittel und bewusste Ernährung.
SCHALKE UNSER:
Wir haben Sie vor drei Jahren interviewt, da waren Sie noch Mannschaftsarzt von S04. Sie sagten damals: „Doch zunehmend entwickeln auch junge Spieler das Bewusstsein, dass sie zwar geheilt werden können, aber nicht auf Teufel komm raus, um dann drei Spiele später wieder verletzt zu sein.“ In dem Handelsblattinterview vom Dezember 2014 erwähnen Sie, dass es datengestützte Vermutungen gibt, dass zwei Drittel der Sportler regelmäßig Schmerzmittel einnehmen, um trainieren und spielen zu können. Was hat das für Auswirkungen?
DR. THORSTEN RARRECK:
Ganz klar, ein langfristiger Einsatz von Schmerzmittel ohne die Ursachen zu bekämpfen, ist in der Schulmedizin nicht so selten. Es ist ja oft so, dass Patienten sagen, die Ärzte gehen nicht den Ursachen nach, sondern geben einfach eine Spritze oder Schmerzmittel. Das liegt sicher auch an den Kostenfaktoren. Der niedergelassene Arzt ist budgetiert, es zahlt keiner ein ganzheitliches Verfahren wie zum Beispiel 30-mal Manualtherapie, dann exzellente Einlagen und anschließend Trainingstherapie von einem halben Jahr Dauer bis der Patient schmerzfrei ist.
Es hat sich eingebürgert, die Dawos-Spritze zu geben, die übrigens nicht nach dem Schweizer Kurort benannt ist, sondern da-wo’s-wehtut eingesetzt wird. In der Notfallmedizin kann man das noch begreifen, aber spätestens dann, wenn man den Patienten mehrfach sieht, muss man an die Ursache ran. Meistens ist es etwas Langfristiges wie Bewegungsmangel, chronische Fehlhaltung und Fehlernährung. Das auszugleichen ist sehr zeitintensiv. Die Zeit ist in der modernen Medizin nicht da und leider die Kostenerstattung auch nicht.
SCHALKE UNSER:
Aber im Leistungssport sind doch andere Faktoren wichtig?
DR. THORSTEN RARRECK:
Dort sind diese Kosten nicht das Problem. Denn ein Spieler, der nicht spielen kann, ist teuer. Das erklärt den Zeitdruck. Auch die Spieler möchten möglichst schnell wieder spielen. Sie möchten zwar ihrem Körper keinen Schaden zufügen, aber es soll halt schnell gehen. Zwar wenn möglich auch ganzheitlich, aber da muss man dann eine Schnittmenge finden, denn beides geht nicht zu hundert Prozent.
Knorpelschäden, Rückenprobleme oder immer wiederkehrende Zerrungen haben natürlich tiefergehende Ursachen. Um die abzubauen, müsste ein Spieler viel länger aus dem Spielbetrieb raus bleiben. Und da muss man irgendwie einen Kompromiss finden. Also dass er trotzdem spielen kann, man aber gleichzeitig anfängt, seine Risikofaktoren abzubauen. Wenn dies Hand in Hand geht, ist das in Ordnung; wenn man jedoch nichts macht und nur an der Symptomunterdrückung arbeitet, dann ist es gefährlich.
Aber es ist so, dass man neue Verträge bekommen oder dem Verein zur Verfügung stehen möchte. Da sind viele Spieler bereit, auch unterdrückende Maßnahmen über sich ergehen zu lassen. Oftmals in Unkenntnis der sie betreuenden Leute; denn es ist ja heutzutage einfach, an Schmerzmittel zu kommen. Da muss man einen Kompromiss finden. Wir können ja nicht jeden, der ein bisschen Schmerzen hat, für drei Monate rausnehmen. Aber wir müssen andererseits schauen, dass man nicht etwas unterdrückt. In diesem Spannungsfeld befindet sich dann auch der Arzt. Er hört vom Spieler, der das Bedürfnis hat, ganzheitlich gesund zu werden, und von dem Trainer, der wünscht, dass er spielt. Und hier ist es dann die Hauptaufgabe des Arztes, eine Lösung zu finden.
SCHALKE UNSER:
Sie erwähnen im Handelsblatt auch, dass Sie es als Naturkundler skandalös finden, was mit den Schmerzmitteln passiert. War das ein Grund, warum Sie nicht mehr Mannschaftsarzt sind?
DR. THORSTEN RARRECK:
Nein. Mit meiner ganzheitlichen Einstellung ist es nicht mehr authentisch, als Vereinsarzt zu arbeiten. Ich würde damit meine medizinische Auffassung nicht mehr repräsentieren. Seit Jahren gibt es die Diskussion, ob Schmerzmittel Doping sind. Sie sind zwar nicht leistungsfördernd, aber ohne könnten viele Spieler nicht spielen. Von daher sind sie doch eine Art Doping. Es würde wohl einen Aufschrei geben, wenn jedes nachgewiesene Schmerzmittel als positiv getestet bewertet wurde. Das ist ja schon länger bekannt, aber, wenn man älter wird, nimmt der Wunsch nach Authentizität zu und man fragt sich: Was ist dein Ding? Neben der Orthopädie ist die Naturheilkunde für mich wichtig. Naturheilkunde heißt, dass man dem Körper Zeit gibt, bestimmte Erkrankungen ausheilen zu lassen, und nicht immer wieder mit dem Kopf vor die Wand zu laufen. „Ich gehe weg von der Wand“ zu sagen anstatt: „Ich nehme jetzt Schmerzmittel, damit ich weiterhin mit dem Kopf vor die Wand hauen kann.“
So bin ich beim Leistungssport gerne weiterhin unterstützend und beratend tätig, aber nicht mehr dem Spannungsfeld ausgesetzt, dass ich Dinge mache, die nicht gut für den Körper des Sportlers sind. Ein Beispiel: Mich hat gestern der Trainer eines anderen Vereins angerufen, ich sei seine letzte Rettung, da ein bestimmter Spieler unbedingt spielen müsse. Ich habe dann zuerst mit dem Vereinsarzt gesprochen, habe mir die Bilder schicken lassen. Es war der Klassiker: Adduktoren gezerrt, man sieht schon eine leichte Flüssigkeit als deutliche Überlastungserscheinung. Der Trainer fand, damit hätte er früher gespielt, er solle sich einfach eine Spritze reinsetzen lassen. Der Vereinsarzt hatte es versucht, es aber nicht richtig hinbekommen und daher hat der Trainer mich angerufen. Man ist natürlich schon irgendwie gebauchpinselt, wenn man als letzte Hoffnung angesprochen wird. Aber ich habe nach dem Befund deutlich gesagt, dass ich nicht dazu beitragen werde, dass der Spieler am nächsten Spieltag spielt.
Wenn der Spieler direkt hier wäre, dann wäre natürlich schon die Versuchung da, ob man nicht doch probiert, etwas zu spritzen. Die Gefahr, dass so ein Adduktor reißt, liegt bei mindestens 20 Prozent. Und das kann ich mit mir nicht mehr vereinbaren. Ich habe in letzter Zeit dreimal erlebt, dass in einer solchen Situation der Adduktor gerissen ist. Der Druck ist natürlich groß, auch für den Trainer. Aber ich möchte mich dem Druck nicht mehr stellen, denn der Schmerz ist immer ein Warnhinweis.
SCHALKE UNSER:
Das beschreibt ja auch Thorsten Legat in seinem Buch, dass er unter Schmerzmitteln völlig übermotiviert spielte, aber sich bereits beim Warmmachen Muskelfaserrisse holte.
DR. THORSTEN RARRECK:
Natürlich, es gibt ja auch den „traurigen“ Zustand, dass unter Endorphinen der Schmerz gar nicht wahrgenommen wird, was auch gefährlich ist. Wenn man den Schmerz unter Schmerzmitteln nicht wahrnimmt, ist das schön, weil man sich dann auf seine Leistung konzentrieren kann. Aber der Schmerz ist ein Signal, das darauf hinweist, dass ein Bereich geschont werden muss. Wenn man ihn nicht wahrnimmt, kann das zur Überlastung führen. Beispielsweise die Innenbanddehnung am Knie: Der Schmerz hindert den Spieler, in Bewegungen reinzugehen, die nicht gut für das Knie sind. Wenn er jetzt Schmerzmittel nimmt oder sich sogar spritzen lässt, ist dieser Schutzreflex ausgeschaltet. Wenn er dann bei einem Tackling nicht bewusst zurückzieht, sondern reingeht, kann es zu einer Kreuzbandverletzung kommen, mit der er ein halbes Jahr nicht spielen kann. Die Wahrscheinlichkeit liegt zwar nur bei 20 Prozent, aber wenn es passiert, dann ist das eine vermeidbare Katastrophe.
Ich habe erlebt, wie ein Spieler auf dem Platz eine Schädelfraktur hatte. Der hatte einen Schlag vor den Kopf gekriegt und er sollte raus, aber er wollte nicht, weil er meinte, dass es ihm gut gehe. Dann hat er sich im selben Spiel noch die Hand gebrochen, nur deswegen ist er dann rausgenommen worden. Aber auch da wollte er eigentlich nicht ausgewechselt werden. Wichtig ist, dass, wenn ein Arzt sagt, ein Spieler müsse raus, auch wenn dieser weiterspielen möchte, der Trainer den Arzt unterstützt und nicht sagt, er müsse weiter spielen. Mir geht es dabei um den Spieler. Er darf sich nicht selber schädigen und im Extremfall nie mehr einsatzfähig sein kann. Aber der Druck wird definitiv größer, weil auch mehr Gelder im Spiel sind. Ich habe keine Probleme, den Druck auszuhalten, aber es geht um die Wahrhaftigkeit meiner medizinischen Philosophie.
SCHALKE UNSER:
Sport ist also doch nicht gesund.
DR. THORSTEN RARRECK:
Das war immer klar und gilt nur für den Leistungsport. Aber die Leistungsfähigkeit muss hier gesteigert werden. Die Belastung ist in den letzten 10 Jahren höher geworden. Die Spieler rennen mehr Kilometer, die kriegen mehr Tacklings, die rücken alle auf; Liberos wie früher gibt es gar nicht mehr. Da werden wir nichts ändern können. Wir können den Fußball nicht auf die 70er Jahre zurückschrauben. Aber wir müssen versuchen, die Belastbarkeit zu erhöhen und da haben wir noch Möglichkeiten: für optimale Ernährung und Mikronährstoffe sorgen. Wie hoch ist der Selenspiegel und die Eiweiße, welche Aminosäuren haben wir? Das kann man genau nachmessen und darauf dann reagieren.
Und dazu natürlich Mentaltraining. Die Anspannung ist viel größer als vor 15 Jahren, durch den Mediendruck und die sofortige Bewertung im Internet. Aber vor allem muss man auch das Training optimieren. Die fünf motorischen Hauptpunkte Kraft, Dehnung, Ausdauer, Koordination und Schnelligkeit müssen optimal eingestellt werden. Wenn man das macht, ist man bestens vorbereitet für den Hochleistungssport.
Fußball ist immer eine verletzungsanfällige Sportart. Aber wenn man die Belastbarkeit erhöht, ist die Belastung besser zu tolerieren. Das ist auch mein großes Anliegen, in diesem Sinne Prävention zu betreiben. Ich bin ausgebildeter Präventologe und habe vor meinem Weggang auf Schalke ein ausführliches Präventionskonzept auch schriftlich hinterlassen, welches jetzt Stück für Stück hoffentlich umgesetzt wird.
SCHALKE UNSER:
Wie weit sind Spieler denn bereit, da mitzumachen? Es ist ja einfacher, sich ein paar Schmerzmittel einzuwerfen.
DR. THORSTEN RARRECK:
Die Belastung gerade durch die WM ist mental und physisch so groß geworden, dass alle großen Vereine mit doppelter und dreifacher Belastung Verletztenprobleme haben. Mittlerweile sieht jeder Vereinsverantwortliche, jeder Trainer und jeder Spieler ein, dass es nicht anders geht. Man hatte es jahrelang versucht, es auf die bequeme Tour zu machen, aber jetzt ist das Bewusstsein da. Von daher muss man jetzt noch die Infrastruktur schaffen, um das umzusetzen. Und ich denke, dass das passieren wird. Denn es ist ja nicht ernsthaft daran zu denken, die Belastung zu reduzieren. Die Spiele werden ja eher mehr werden und die Regenerationspausen kürzer. Aber die Idee, dass eine vierte Auswechslung möglich ist, finde ich nicht schlecht, um die Spieler zu schützen.
SCHALKE UNSER:
Das verlangt aber im Grunde genommen auch intelligente Spieler.
DR. THORSTEN RARRECK:
Die Frage ist da, ist es nur der IQ oder auch die emotionale Intelligenz? Wichtig ist doch zu spüren, was dem Körper gut tut. Aber auf alle Fälle braucht es eine gewisse Selbstreflexion. Wenn jemand immer wieder verletzt ist, ein sogenannter Seuchenvogel, dann muss einiges hinterfragt werden. Drei Ebenen sollten überprüft werden: erstens die Psyche, das Regenerationsverhalten und die familiären Zustände. Zweitens die Ernährung und drittens der Trainingszustand. Denn, dass das nicht reicht, was man auf dem Platz macht, ist ja klar. Jeder muss zusätzlich seine individuellen Schwächen ausgleichen.
Wenn der Spieler sich diese drei Fragen stellt und sich fragt, ob er alles dazu beigetragen hat, dann ist es in Ordnung. Aber das ist gerade bei den häufig verletzten Spielern nicht immer so. Es kann genetisch bedingt sein. Aber bei 80 Prozent der Spieler findet man die Ursachen in deren Lebenswandel. Da kann man sagen, wenn du dieses oder jenes abstellst, dann hast du deutlich weniger Probleme.
SCHALKE UNSER:
Was macht man dann?
DR. THORSTEN RARRECK:
Man fragt, ob genug geschlafen wird. Ein Leistungssportler braucht mindestens acht Stunden am Tag. Wenn er nun einen unruhigen Schlaf hat, dann sollte der Schlafplatz untersucht werden auf Elektrosmog, aber auch, ob es dunkel und still genug ist. Dann die zweite Frage, ob man am Feierabend eher die Ruhe sucht anstelle der Zerstreuung. Jupp Heynckes sagte zu mir, dass er die jungen Spieler nicht versteht, die auch in englischen Wochen die Zerstreuung in Diskotheken und Cafes suchen. Er sagte, dass er immer in den Wald gegangen sei mit der Familie oder guten Freunden, damit sein Nervensystem ganz runtergefahren wird und er sich erholen kann. Dann aber auch die Ernährung. Man muss wissen, wie viel Eiweiß man nach einer Belastung zu sich nehmen muss. Es gibt in jedem Verein Ernährungsspezialisten, die erklären können, wie man zum richtigen Zeitpunkt das Richtige isst. Und vor allem analysiere ich konsequent die Mikronährstoffe.
Ich hatte einen Spieler, der davon überhaupt nichts hielt und auch einen relativ unsteten Lebenswandel hatte. Auf alle Fälle bat der Spieler plötzlich, dass ich ihm diese Präparate geben solle. Ich war völlig überrascht, aber er meinte, dass es für seinen Schwiegervater sei, der, seit er das nehme, nicht wieder erkältet sei. Also beobachte er den Effekt bei den anderen, hat es aber selber trotzdem nicht genommen. Ich meine damit, dass im Blut nachgewiesene Mängel, dann konsequent ausgeglichen werden müssen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass man konsequent an seinen Schwachstellen trainiert. Es gibt Tests, die genau zeigen, wo Spieler ihre Schwachstelle haben. Das erfordert, dass man dann konsequent trainiert – dafür sind auch die Athletiktrainer da. Um das alles zu gewährleisten, muss meiner Meinung nach jeder Spieler von halb neun bis halb fünf auf dem Campus sein. Mindestens. Der moderne Fußballer von heute hat einen Fulltimejob. Die halben Tage halte ich persönlich nicht für gut. Ein Spieler wie Ronaldo lebt extrem professionell. Der schläft angeblich 10 Stunden, er hat, obwohl ihm das Real auch schon anbietet, noch einen persönlichen Mentalcoach und zwei Fitnesscoaches. Er sagt, sein Körper sei sein Kapital, und setzt das so um. Er ist nicht nur eitel, er macht das nicht nur für seine Unterwäsche-Kollektion, sondern wirklich für den Fußball. Bei all dem muss bei aller Disziplin-Forderung auch die Jugend der Spieler berücksichtigt werden.
Ich habe einen guten Freund, der ist Heilpraktiker, ein sehr guter Mann. Der geht mit den Patienten so um, dass er ihnen sagt, was sie zu tun haben. Wenn die das beim zweiten Mal nicht umgesetzt haben, dann sagt er denen, dass sie nach Hause gehen können, der Behandlungsvertrag sei aufgelöst. Er sagt, dass er nur mit Leuten arbeiten kann, die alles machen, was er will, ansonsten funktioniert das nicht. Jetzt muss man aber sagen, dass seine Praxis mittlerweile fast leer ist. Er ist wirklich gut. Aber man muss schon etwas liebevoller mit den Leuten umgehen, auch mal Rücksicht nehmen. Nur wenn jemand immer über die Stränge schlägt und das überhaupt nicht begreift, dann muss man auch als Verein sagen, dass man sich von ihm trennt, sollte er nicht professionell mit seiner Gesundheit umgehen. Die jetzigen Vereinsverantwortlichen, die haben noch vor 10 Jahren selber Fußball gespielt. Da war es wirklich eventuell möglich – ich war zu der Zeit ja auch schon dabei – dass man die Nacht durchgemacht hat und trotzdem gut trainiert und gespielt hat. Es gibt die Anekdoten von Spielern, die halbbetrunken beim Training ankamen. Das ist heute kaum mehr möglich. Die Athletik und der Druck sind so groß geworden, dass solche Fehler bitter bezahlt werden mit Verletzungen. Die Konzentration muss auf dem Punkt sein. Nachlässigkeit ist hier kein Kavaliersdelikt mehr.
SCHALKE UNSER:
Welche Langzeitnebenwirkungen kann der übermäßige Gebrauch von Schmerzmitteln haben?
DR. THORSTEN RARRECK:
Sie können zu Magengeschwüren führen, die tödlich enden. Aber diese Mittel führen auch zur Beeinflussung des Herzens und des Blutdrucks. Das hat man erst in den letzten Jahren erkannt. Das heißt, der Blutdruck geht hoch und man merkt es gar nicht oder Herzrhythmusstörungen entstehen. Das ist auch ein Risiko, das man nicht unterschätzen darf. Die Leber wird natürlich belastet wie auch die Niere, wenn auch nicht so häufig. Aber der Fall Klasnic ist bekannt. Er hat ja die Niere verloren durch den Einsatz von Diclofenac. Er streitet sich bis heute mit dem Vereinsarzt von Bremen vor Gericht. Ich kenne den sehr gut und ich bin ganz sicher, dass er ihm das nie systematisch gegeben hat, sondern dass der Spieler sich das selber besorgt hat.
Es kann natürlich auch zur Abhängigkeit kommen. Es gibt Personen, die schon routinemäßig Schmerzmittel nehmen, also psychisch abhängig sind. Die Mittel verursachen auch erhebliche Müdigkeit, was natürlich zur Beeinträchtigung im Spiel führen kann, weil man nicht mehr so reaktionsfähig ist. Man kann mal ein Schmerzmittel nehmen. Aber eine dauerhafte Einnahme muss man einfach ablehnen. Das Ausmaß kann weder der Spieler, noch der Trainer, noch der Physiotherapeut, noch der Aufsichtsrat einschätzen. Die sehen nur, der nimmt es und kann damit wieder auf dem Platz stehen. Die kennen ja die Hintergründe nicht.
SCHALKE UNSER:
Wenn Spieler aus eigenem Antrieb unabhängig vom Vereinsarzt regelmäßig Schmerztabletten nehmen, merkt das der Arzt?
DR. THORSTEN RARRECK:
Das kann der gar nicht merken. Ich hatte einen Fall, da hat ein Spieler von anderer Seite ein Schmerzmittel bekommen und erlitt dadurch erhebliche Nebenwirkungen, die ihn für mehrere Wochen spielunfähig machte. Da wird das dann bemerkt. Man checkt aber nicht ständig bei jedem den Blutdruck, sondern schickt die Spieler zweimal im Jahr zum Internisten. Somit sieht man sonst nicht, was da los ist.
Was auch nicht sehr bekannt ist: Zu Diclofenac gibt es eine Untersuchung, die besagt, dass dieses Medikament bei Muskelverletzungen die Heilung verzögert, weil wir nach einer einblutenden Verletzung eine Art Entzündungsphase für die Heilung brauchen. Somit hat man dann mit dem Mittel zwar keine Schmerzen mehr, aber die Heilungsphase dauert nachweisbar länger. Bei den nationalen und internationalen Treffen der Sportärzte wird deutlich, dass jeder das Problem mit den Schmerzmitteln kennt.
SCHALKE UNSER:
Die Problematik ist also bekannt, trotzdem sagen Sie, dass zwei Drittel der Spieler regelmäßig Schmerzmittel einnehmen. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
DR. THORSTEN RARRECK:
Das ist die Schätzung der Antidopingkommission. Die Mittel sind ja alle erlaubt, aber man muss sie bei einer Kontrolle angeben. Weil sie dann so gehäuft angegeben wurden, wurde überhaupt deutlich, dass fast jeder mit Schmerzmittel spielt. Das war der Beweggrund, darüber nachzudenken, ob es überhand genommen hat und diese Mittel verboten werden sollten.
SCHALKE UNSER:
Also sollten den Profis die Schmerzmittel verboten werden?
DR. THORSTEN RARRECK:
Zumindest sollten die Dosierung und die Einnahmedauer limitiert werden, weil man dann entweder die Zähne aufeinanderbeißt und mit dem natürlichen Schmerzreflex spielt und ohne die Nebenwirkungen dieser Mittel. Oder es geht halt nicht bis der Schmerz so erträglich ist, dass man dann wieder den normalen Bewegungsablauf hat. Das ist der sinnvolle Ansatz. Dann sollte man natürlich nicht einfach warten, sondern die anerkannten Therapie der Sportmedizin einsetzen und die Ernährung und das Training darauf einstellen. Mentaltraining kann auch das Schmerzempfinden runterdämpfen. Aber man muss sich bewusst sein, dass jeder Körper seinen eigenen Heilungsverlauf hat, und den kann man nur bedingt verkürzen. Denn wenn eine Verletzung nicht ausheilt, kann es zu Serienverletzungen kommen, weil der Körper gegenkompensiert. Natürlich ist ein Spieler mit dreißig anfälliger als ein Zwanzigjähriger. Die 10 Jahre machen schon eine ganze Menge aus.
SCHALKE UNSER:
Es wird somit Raubbau am Körper betrieben.
DR. THORSTEN RARRECK:
Das kann man so sagen. Es kommt zu extremen Belastungen des Bewegungsapparats durch die Zerrungs-, Stauch- und Dehnungsmomente. Da bekommt der Körper solche Mikroschläge, die nicht genug Zeit bekommen durch einen neuen Trainingsreiz oder die englischen Wochen, um auszuheilen. Das kann sich dann zu einer Verletzung summieren. Fußball ist ganz klar eine Risikosportart.
SCHALKE UNSER:
Das sehen ja einige Arbeitgeber bei Amateurfußballer auch so, wenn die Leute immer wieder montags verletzt fehlen.
DR. THORSTEN RARRECK:
Wenn Mitarbeiter zum wiederholten Mal ausfallen, hat der Arbeitgeber das Recht zu sagen, dass das nicht geht. So leid es ihm tut, auch wenn er Fußballfan ist. Aber wenn der ganze Betriebsablauf gestört wird … Unter Profis geht das ja noch, aber es ist schon ein Problem und klar ist auch: Fußball, so wie er jetzt gespielt wird, ist so von der Natur nicht vorgesehen.
SCHALKE UNSER:
Kommen Spieler trotzdem zu Ihnen, obwohl Sie nicht mehr Vereinsarzt sind?
DR. THORSTEN RARRECK:
Ja sicher, das würde sonst auch gegen mich sprechen, viele kenne ich ja schon seit Jahren. Als Vereinsarzt musste ich immer in Kauf nehmen, dass es den Praxisablauf durcheinander brachte, wenn ein Spieler kam. Jetzt kann ich ihnen sagen, dass sie sich, genau wie alle anderen Patienten, einen Termin geben lassen sollen. Ich bin jetzt nur noch der Gesundheit der Spieler verpflichtet. Das ist ein großer Vorteil, so unabhängig zu sein.
SCHALKE UNSER:
Ganz herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch und Glückauf.