Schalke ist mehr als nur Fußball

Sabrina mit Pferd und Hund

Ich bin Sabrina, oder auch die Blindschleiche genannt. 1981 kam ich als Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt. Durch die Sauerstoffzufuhr im Brutkasten bekam ich eine Netzhautablösung. Es hätte aber auch mehr passieren können. Daher sage ich immer, ich bin nur blind. Für mich ist es normal und ich kann es mir gar nicht anders vorstellen.

Ich wuchs mit meiner Familie in einem Hochhaus auf. Das war mein Glück. Wir waren dort viele Kinder. Meine großen Brüder haben mich immer mit raus genommen. Und wenn Fußball gespielt wurde, stand ich auch mit auf dem Platz. Meist als Verteidigerin. An den Wochenenden war ich oft bei Oma und Opa, Vater und Opa hatten eine Dauerkarte auf Schalke. Ich wollte immer mit. Aber es hieß, „dafür bist du noch zu klein“. Da blieb mir nur das Radio.

Kindheit im Parkstadion

Als ich zehn Jahre alt war, durfte ich mit, Opa hatte noch Alexander Ristic und Andi Müller um Rat gefragt. Ihm war wohl immer noch nicht so wohl dabei, seine blinde Enkelin mit zum Fußball zu nehmen. Aber die beiden haben ihn zu meinem Glück überzeugt. Vor meinem ersten Spiel zeigte mir Opa das leere Parkstadion. Wir gingen in den Innenraum aufs Spielfeld, kletterten auf die Ehrentribüne und liefen die Laufbahn ab. Im Mai 1992 gegen Kaiserslautern war es soweit. Ich weiß noch genau, wie irritiert ich war, als ich in Block E der Haupttribüne kam: Es gab ja gar kein Radio und meine Begleiter waren nicht die besten Kommentatoren. Sobald ein Raunen durchs Stadion ging, boxte ich abwechselnd nach links und rechts und fragte: „Was ist los?“ Mit der Zeit lernte ich, das Spiel anhand der Fanatmosphäre zu lesen. Irgendwann fragte ich nur noch: „Ecke? Freistoß? Wer hat wen gefoult?“

Opa ging oft vor und nach den Spielen mit mir zum Marathontor, wo ich die Spieler traf. Zu einigen Spielern und Ordnern haben sich ganz besondere Beziehungen entwickelt, beispielsweise zu Uwe Scherr, Youri Mulder, Marco van Hoogdalem oder Charlie Neumann. Als wir 1997 den UEFA-Pokal gewonnen hatten, sagte Opa zu mir: „Nun wird es Zeit, dass du Mitglied im Verein wirst.“ Das machte mich natürlich sehr stolz!

Von der Haupttribüne in die Nordkurve

1999 ging ich mit meinem Kumpel Wolf zu Bochum gegen Nürnberg; wir waren im Gästeblock im Stehplatzbereich. Das fand ich sehr cool! Auf Schalke wollte ich auch gerne mal in der Nordkurve stehen. Wolf stellte mir Marc vor, der eine Dauerkarte in der Nordkurve hatte. Ich erzählte ihm, dass ich da gerne stehen würde. Dann haben wir uns einfach beim nächsten Spiel unserer Blauen verabredet. Ich bin in der Halbzeit von der Tribüne in die Kurve in Block 6 gegangen. Und da bin ich dann auch bis zum Auszug geblieben. Von da an machte ich mich auch oft alleine mit Öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Weg von Witten nach Gelsenkirchen. Das war ein Gefühl von Freiheit für mich.

Umzug in die Arena

2001 zogen wir in die Arena um. Ich war traurig darüber: Das Parkstadion kannte ich in- und auswendig. In der Arena läuft man im Kreis und merkt es nicht, weil es so weitläufig ist. Inzwischen komme ich aber in der Arena auch recht gut zurecht. Ich habe meine Wege gut im Gefühl und im Zweifel kann man ja immer jemanden fragen. Meinen Platz in Block N6, wo ich immer noch mit der Clique aus dem Parkstadion zusammenstehe, finde ich ganz alleine. Mein Blindenstock kennt den Weg durch die Menge.

Eintritt in den Supporters-Club

2002 trat ich in den Supporters-Club ein. Ich lernte immer mehr Leute kennen und habe mich dann einfach ohne groß nach zu denken für Auswärtstouren mit der „Kröte“, unserem Bus, angemeldet. Je öfter ich mitfuhr, umso mehr rückte meine Blindheit in den Hintergrund. Man kommt auf solchen Touren mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen zusammen, die sich sonst wahrscheinlich niemals kennen lernen würden. In den ganzen Stunden, die man zusammen verbringt, geht es um viel mehr als um Schalke oder Fußball. Man quatscht über alles mögliche, wird auch privat und es entstehen Freundschaften.

Auch mein langjährigen Partner hatte ich in der Kröte kennen gelernt. Das war zwar keine Liebe fürs Leben. Aber immerhin neun unvergessliche Jahre, mit vielen schönen Momenten und gemeinsamen Schalke-Reisen. Ich bin stolz darauf, ein Teil des SC zu sein. Das ist für mich die beste Inklusion, die mir passieren konnte.

Durch die Republik und Europa

Nach dem Wechsel in die Kurve nahmen auch die Auswärtsfahrten zu. Mit dem Auto nach Bielefeld, Bremen oder zum Pokalfinale nach Berlin. Mit der Kröte nach Unterhaching, Frankfurt oder Stuttgart. Oder mit dem Zug nach Gladbach, Köln oder Leverkusen. Wenn Schalke spielte, wollte ich dabei sein. 2005 bestand ich meine Ausbildung zur Bürokauffrau in der Uni Witten/Herdecke. Ich machte mir selbst ein Geschenk und fuhr in der Saison 2005/06 alle 34 Ligaspiele. Einmal verschlief ich die Kröte nach Berlin. Also machte ich mich kurz entschlossen mit dem Zug auf den Weg. Ich habe es geschafft.

Auch international ging es 2005 für mich los: mit dem Sonderzug nach Eindhoven, der Kröte nach Mailand oder London oder mit dem Flugzeug nach Trondheim, Barcelona, Madrid oder Tel Aviv. Mit Schalke bin ich an Orte gekommen, an die ich sonst niemals hingekommen wäre. Und auch mit Luna und Guinness, meinen Blindenführhunden, habe ich so manche Tour erlebt. Hier könnte ich nun weit aus holen. Bis 2015 war ich immer, wenn es möglich war, mit Schalke unterwegs. Dann bin ich aus gesundheitlichen Gründen etwas kürzer getreten. Aber meine Dauerkarte habe ich immer noch.

Cover SCHALKE UNSER 105
SCHALKE UNSER 105

Arbeitsgruppe „Schalke für alle“

2018 fand auf Schalke eine Lokalkonferenz statt. Dort kamen Fans, Mitarbeiter, Polizei und weitere interessierte Menschen zusammen, um darüber nachzudenken, wie man das Stadionerlebnis für alle Beteiligten verbessern kann. Ich war auch dabei. Hier entstand die AG „Schalke für alle“. Wir sind ein kritischer Haufen von Menschen mit und ohne Behinderung. Wir setzen uns dafür ein, das Stadionerlebnis und alles, was mit Schalke zu tun hat, barrierefrei oder wenigstens barriereärmer zu gestalten. Entstanden sind da beispielsweise Inklusionsfahrten, die schon 04 mal stattgefunden haben.

Auch an einem barrierefreien Internetauftritt der Homepage und Apps versuchen wir zu arbeiten. Dort können wir auch erste Erfolge sehen. Die Schalke-App lässt sich immer besser mit einem Screenreader (Sprachausgabe für Blinde) bedienen. Und in den „sozialen Medien“ werden Fotos mit Alternativtexten (Bildbeschreibungen, die von einer Sprachausgabe vorgelesen werden) hinterlegt. Auf Schalke gibt es natürlich auch eine Blindenreportage. Die nutze ich auch seit einigen Jahren und mag sie mir nicht mehr wegdenken. Nun in der Pandemie ist daraus der Knappen-Kommentar entstanden. Er wird für alle frei zugänglich in der offiziellen Schalke-App oder der Homepage zu jedem Spiel bereitgestellt.

Ich habe mit Schalke so viel erlebt. Habe unfassbar tolle Menschen kennengelernt, auf die man sich im Notfall immer verlassen kann und Freunde geworden sind. Auch wenn mir die Kommerzialisierung im Fußball nicht gefällt und ich mich in der letzten Zeit so oft für meinen Herzensverein einfach nur schämen musste, ist Schalke meine Liebe fürs Leben. Das, was Schalke ausmacht, wird nicht kaputtgehen, denn Schalke sind wir!
Nun noch etwas zu mir. Neben Schalke habe ich auch noch Einiges anderes zu tun. Ich spiele Improvisationstheater, entspanne mich bei meinem Pflegepferd Wildfire, arbeite an der Uni Witten/Herdecke, engagiere mich im Leitungsteam vom Blinden- und Sehbehindertenverein Witten und bin „Blickpunkt Auge“-Beraterin: Wir beraten Menschen mit Augenpro-
blemen oder deren Angehörige.

Mehr dazu unter: www.blickpunkt-auge.de

Solltest du selbst Probleme mit den Augen haben oder jemanden kennen, der welche hat, kannst du dich gerne bei mir melden.

Glück auf!
Sabrina

In Deutschland leben 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen. Das sind Schätzungen und Hochrechnungen, da blinde und sehbehinderte Menschen hierzulande nicht gezählt werden. Die Zahlen beruhen auf Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für andere Länder und werden für Deutschland hochgerechnet und angenommen.

Definitionen nach deutschem Recht:
• Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er oder sie auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt. (Sehvermögen ≤ 30 %)
• Ein Mensch ist hochgradig sehbehindert, wenn er oder sie auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 5 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt. (Sehvermögen ≤ 5 %)
• Ein Mensch ist blind, wenn er oder sie auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 2 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt. (Sehvermögen ≤ 2 %)

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